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SF71 – Reservoir Dogs (feat. Mathias)

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Paula
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Daniel
Mr. Pink
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Mathias
Mr. Blonde


I don’t tip because society says I have to

Mit den Gehirnen von 35 Jährigen in den Körpern von 90 Jährigen luden wir unseren Berlin-Korrespondenten Mathias und die üblichen technischen Probleme ein, um endlich die Frage zu klären: Who shot Nice Guy Eddie? Nebenbei klärten wir übrigens auch, ob Mr. Pink starb. Reservoir Dogs bildet also den Auftakt unserer nun nicht mehr ganz so geheimen Regisseur-Reihe. Fuck! Tarantino hat uns voll erwischt. Loyal, vulgär, gewalttätig und vor allem hypermännlich kamen wir als Boten mit Berichten zu dieser Geburt. Mathias, hörst du uns?!

Vorgeplänkel

Daniel schaltet den Herd unerfolgreich aus … ♦ Was wurde eigentlich aus Kermit? ♦ 6 von 36 Fragen, durch die man sich verliebt … ♦ Die Retter von New York ♦ Daniel war im Enough Talk! und sprach noch einmal über künstliche Intelligenz ♦ Außerdem sprach Daniel über Harry Potter in der Second Unit

Die Eckdaten von Reservoir Dogs

Erscheinungsjahr: 1992
Regie: Quentin Tarantino
– Filmographie als Drehbuchautor:
1993 True Romance
1994 Natural Born Killers (Story)
1995 Dance Me To The End Of Love (Kurzfilm)
1996 From Dusk Till Dawn
1996 Curdled
Schnitt: Sally Menke (1953-2010).
Budget: 1,5 Mio
Besetzung: Harvey Keitel (Mr. White,) Tim Roth (Mr. Orange), Michael Madsen (Mr. Blonde), Steve Buscemi (Mr. Pink), Quentin Tarantino (Mr. Brown), Chris Penn (Nice Guy Eddie), Eddie Bunker (Mr. Blue)
Genre: Gangsterfilm, Kammerspiel, Heist-Movie, Neo-Noir, Thriller, postmoderner Film, Tragödie

Eddie Bunker, der Mr. Blue spielt, war übrigens ein Ex-Bank-Räuber im wahren Leben. Er war der jüngste Gefangene, der jemals in St. Quentin einsaß. Nach seiner Haftstrafe schrieb er Bücher und wurde Schauspieler.

Die Produktion von Reservoir Dogs

Die Idee zu Reservoir Dogs

Tarantino kam auf die Idee zu Reservoir Dogs, als er noch in der Videothek Video Archives arbeitete. In dieser Videothek gab es ein Themen-Regal, das sie jede Woche mit anderen Filmen bestückten. In einer Woche war das Thema „Heist-Movies“. Tarantino nahm sich jeden Abend einen mit nach Hause, schaute alle Klassiker des Genres und dachte sich:

„I put my head round what a neat genre that would be to redo.“

Der Legende nach fand er in den Video Archives auch den Titel „Reservoir Dogs“ als er einem Kunden den Film Au revoir, les enfants empfahl, der aber die Empfehlung abtat mit:

„I don’t want no reservoir dogs!“.

Diese Geschichte ist so schön, dass wir sie euch nicht vorenthalten wollten, aber höchst wahrscheinlich nicht wahr. Kritiker sagen, dass zum Zeitpunkt, als Reservoir Dogs entstand, Au revoir, les enfants noch keinen Video-Release in den USA hatte.

Während der Produktion erzählte Tarantino immer die Geschichte, dass “Reservoir Dog” im französischen Gangsterfilm „Verräter“ bedeute. Das ist aber definitiv nicht wahr und Tarantino hatte es sich nur ausgedacht, um die Geldgeber ruhigzustellen, da er wusste, dass sie das französische Kino sowieso nicht gut genug kannten.

Das Drehbuch von Reservoir Dogs

Tarantino hatte bereits einige Drehbücher geschrieben, die aber allesamt von den Studios, an die seine damalige Managerin Cathryn Jaymes sie schickte, abgelehnt wurden. Die Begündung war stets: Zu unmoralisch, zu vulgär, zu Brutal. Ein Manager störte sich so sehr an den vielen „Fucks“ im Skript von True Romance, dass er Cathryn Jaymes folgendes Antwortschreiben schickte:

„Dear Fucking Cathryn,

How dare you send me this fucking piece of shit. You must be out of your fucking mind. You want to know how I feel about it? Here’s your fucking piece of shit back. Fuck you.“

Dann traf Tarantino seinen zukünftigen Produzenten Lawrence Bender. Bender hatte damals auch erst einen Film gemacht. Er war begeistert vom Drehbuch von Reservoir Dogs. Bender versprach Tarantino, das Geld für den Film zu besorgen und der Regisseur gab ihm zwei Monate Zeit. Den Vertrag unterschrieben sie auf einer Papierserviette.

Benders größtes Problem bei der Finanzierung war, das Tarantino darauf bestand, selbst Regie zu führen. Zwar gab es einige Interessenten, die merkten, wie brillant das Drehbuch ist, aber niemand war bereit, das Risiko einzugehen, einen unbekannten Videothekar auf den Regiestuhl zu setzen. Benders erster Erfolg war dann, das Drehbuch zu True Romance an Tony Scott für 30.000 $ zu verkaufen. Scott wollte eigentlich lieber Reservoir Dogs haben, aber Tarantino rückte sein liebstes Projekt nicht raus.

Tarantinos und Benders Plan war dann, Reservoir Dogs zusammen mit ihrem Freundeskreis mit dem Geld für True Romance zu drehen. Da sie das nicht weit bringen würde, war der Plan Reservoir Dogs als 16mm schwarz-weiß Kurzfilm zu drehen, in dessen Mittelpunkt die Szene steht, in der Mr. Pink, den Tarantino spielen wollte, von einem Polizisten (gespielt von Lawrence Bender) gejagt wird.

Allerdings nahm Bender damals auch selbst Schauspielunterricht. Und als er seinem Schauspiellehrer von dem Script erzählte, sagte der, dass seine Frau Harvey Keitel kenne und so landete das Drehbuch schließlich in Keytels Schoß. Keitel willigte ein, sich mit Tarantino zu treffen. Bei diesem Treffen kam es der Legende nach zu einem berühmt gewordenen Dialog:

Keitel fragte: ‘How’d you come to write this script? Did you live in a tough-guy neighborhood growing up?’
Tarantino sagte nein.
Keytel: ‘Was anybody in your family connected with tough guys?’
Tarantino sagte nein
Keitel: ‘Well, how the hell did you come to write this?’
Tarantino: ‘I watch movies.’

Harvey Keitel stieg in das Projekt als Hauptdarsteller und Co-Produzent ein. Mit seiner Unterstützung gelang es, das Budget, auf 1,5 Millionen zu erhöhen. Keitel finanzierte auch die Casting-Session in New York, bei der das Team Steve Buscemi, Michael Madsen, und Tim Roth fand. Keitels wichtigste Rolle war allerdings, dass er Tarantino als Regisseur den Rücken stärkte. Man kann mit Fug und Recht sagen, dass die Welt Harvey Keitel verdankt, dass sie Tarantino als Regisseur bekam.

Das knappe Budget

Das Budget von 1,5 Millionen war noch immer so niedrig, dass das Team an allen Ecken und Enden sparen musste. Mehrere Schauspieler trugen ihre eigenen Klamotten, zum Beispiel gehörte die hübsche Trainingsjacke wirklich Chris Penn. Steve Buscemi trug statt einer Anzughose, schwarze Jeans, die ihm gehörten. Michael Madsen fuhr wegen des knappen Budgets sein eigenes AutoRobert Kurtzman willigte ein, das Special Make-up umsonst zu machen, wenn Tarantino im Gegenzug umsonst eine Geschichte von Kurtzman in ein Drehbuch umarbeite. Die Geschichte war: From Dusk Till Dawn.

Eine Parallele zu Diary of a Teenage Girl (SF69): die Crew hatte kein Geld, um bei den Szenen auf der Straße diese sperren zu lassen. Besonders problematisch gestaltete sich daher die Szene, in der Mr. Pink das Auto klaut. Die Crew musste bei den einzelnen Takes immer den richtigen Moment abwarten, an dem die Ampel auf Grün umspringt, damit Buscemi losfahren kann.

In einem Interview sagte Tarantino später, dass er überproportional viel für die Rechte des Songs „Stuck in the middle with you“ ausgeben musste. Das Lied, das er in der Folterszene verwendet. Und zwar hatte er schon im Drehbuch stehen, dass er den Song in dieser Szene verwenden will. Dadurch wusste die Plattenfirma, dass sie viel dafür verlangen konnte. Tarantino sagte, dass er daraus gelernt hat und nie wieder die geplante Verwendung eines Songs ins Drehbuch geschrieben hat.

Der Dreh von Reservoir Dogs

Ebenfalls wie Marielle Heller vor Diary of a Teenage Girl (SF69) wurde auch Tarantino zum Sundance Institute eingeladen. Allerdings besuchte er den Regie-Workshop. Dort inszenierte er mit Schauspielern unter Anleitung eine Szene von Reservoir Dogs. Einer seiner Lehrer war übrigens Terry Gilliam, dem Tarantino dann im Abspann von Dogs auch dankt.

Die eigentlichen Dreharbeiten fanden im Juli und August statt. Und es war so heiß, dass Tim Roth mehrere Male durch das getrocknete Kunstblut buchstäblich am Boden festklebte und in den Drehpausen abgekratzt werden musste, was mehrere Minuten dauerte.

Michael Madsen hatte große Probleme, die Folterszene zu drehen. Als Kirk Baltz (der den Polizisten spielt) improvisierte und flüstert: „I’ve got a little kid at home.“ musste Madsen die Szene weinend abbrechen, da er gerade selbst Vater geworden war.

Weniger Probleme hatte Madsen damit, Baltz in den Kofferaum seines Autos zu sperren. Kirk Baltz bat Madsen bei einer Probe darum, einmal um den Block zu fahren. Da er noch nie in einem Kofferraum eingesperrt gewesen war, wollte er die Erfahrung machen, um seine Rolle glaubwürdiger spielen zu können. Als Madsen im Auto saß, beschloss er, dass dies eigentlich auch eine gute Gelegenheit sei, sich mit seinem eigenen Filmcharakter vertraut zu machen. Daher fuhr er nicht nur um den Block, sondern erst einmal durch den Drive-In eines Taco Bells und dann erst zurück zum Set. Dass er dort mit einem Becher Cola auftauchte, gefiel Tarantino so gut, dass sie dies für den Dreh übernahmen.

Das Rätsel des Showdowns

Im Showdown, wenn Mr. White, Joe und Nice Guy Eddie sich im Mexican Standoff gegenüberstehen, gibt es das große Rätsel, das zu vielen Fantheorien geführt hat: Wer erschoss Nice Guy Eddie? Mr. White erschießt Joe und wird dann von Eddie erschossen. Aber Eddie fällt einfach um, ohne dass eine Waffe auf ihn gerichtet ist. Es gibt sogar T-Shirts mit der Frage: „Who shot Nice Guy Eddie?“.

Die Auflösung ist eine Panne: Die Schauspieler trugen Kunstblutbeutel unter der Kleidung mit Mikrozündern. Aber der Beutel von Keitel explodierte zu früh, sodass er zu Boden ging, bevor er auf Penn schießen konnte. Dann explodierte Penns Blutbeutel und er ließ sich fallen. Tarantino beschloss gemäß dem von uns schon oft zitierten Hollywood-Credo „Wirkung geht über Realismus“ diesen Take zu nehmen.

Filmisches Erzählen in Reservoir Dogs

Die erste Szene

„This scene works not because it’s 5 dudes sitting around, it works because it’s entertaining. They’re not talking about themselves or talking about their job, because we have NO idea why they’re even together. We just know that they’re shooting the shit in a very casual, entertaining way. It tells us a lot about the characters, without knowing them.“

Taste of Cinema

Die erste Szene im ersten Film von Tarantino ist bereits ganz großartig und zeigt vieles von dem, was den Regisseur in seinen kommenden Filmen auszeichnen soll. Natürlich fallen dabei sofort die Tarantino-typischen Dialoge auf.

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Aber die Szene ist nicht einfach nur unterhaltsam. Sie eröffnet zugleich eine ganze Reihe von Themen, die sich durch den Film ziehen. Zunächst das Thema Männlichkeit. Es sitzen ein Haufen Typen um einen Tisch herum und unterhalten sich über eine Frau (Madonna). Durch die Trinkgelddiskussion wird die postmoderne These eingeführt, dass es keine universellen Werte gibt und wiederum durch die „Like a Virgin“-Anekdote wird das Thema „Erlösung durch Schmerz etabliert.

Nicht zuletzt bekommen fast alle Charaktere einen kleinen oder größeren Moment, der sie etabliert. Mr. White nimmt Joe das Buch weg und zeichnet sich so als Anführer aus, der Joe ebenbürtig ist. Mr. Blonde fragt daraufhin, ob er Mr. White umbringen soll, womit er seine Psychopathie andeutet und zugleich zeigt, wie loyal er Joe gegenüber ist. Mr. Pink zeigt mit der Trinkgeld-Diskussion, wie egoistisch und durchgeknallt er ist, aber auch, dass er gute Argumente hat. Mr. Orange, der Verräter, verrät dann Mr. Pink, als Joe fragt, wer kein Trinkgeld gegeben hat. Auch wichtig ist, dass Mr. Brown so einen großen Redeanteil an der ersten Szene hat. Da wir ihn später fast nicht mehr sehen und er auf der Flucht stirbt, ist es wichtig, dass wir ihn kennengelernt haben. Warum? Das erklärt uns noch einmal „Movies I Love (and so can you)“ am Unterschied von Jurassic Park und Jurassic World:

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Ein männlicher Film

Reservoir Dogs ist ein sehr männlicher Film. Die Fakten sind zunächst, dass wir nur männliche Sprechrollen haben und dass diese Männer sich geradezu „hypermännlich“ verhalten. Aber im Gegensatz zu vielen anderen Filmen ist sich RD dieser Tatsache sehr bewusst und spielt damit.

Das sieht man wieder an der ersten Szene, in der erst misogyn über Madonna und ihre „Big Digs“ diskutiert wird. Aber im Anschluss über Trinkgeld und darüber dass vor allem Frauen ohne Ausbildung Kellnerinnen sind und sie auf das Trinkgeld angewiesen sind – ein dezidiert feministisches Thema.

Die nächste Szene nach der Titelsequenz zeigt dann den angeschossenen Mr. Orange im Auto. Die Art und Weise, wie Tim Roth sie spielt und auf der Rückbank des Autos liegt erinnert dabei stark an eine Geburt. Dabei schreit er immer wieder, dass er von einer Frau angeschossen wurde und fragt, warum sie das gemacht hat. Im Lagerhaus tupft Mr. White ihm dann auch noch die Stirn, wie ein werdender Vater der Frau.

Postmodernes Kino & Erlösung

Tarantino gilt als Paradebeispiel für einen postmodernen Regisseur, weil er selbstreflexiv und selbstironisch. Er packt seine Filme mit unzähligen Zitaten und Referenzen voll. Mark T. Conard betont, dass das aber noch nicht alle postmodernen Aspekte an Tarantino sind. Er schreibt, dass die postmoderne Philosophie sich dadurch auszeichnet, dass sie sowohl die Suche nach universellen Werten als auch jene nach absoluter Wahrheit aufgegeben hat. Beide Elemente stecken auch immer in Tarantinos Filmen.

Die Relativierung von Werten ist ein permanentes Thema in Reservoir Dogs, wahrscheinlich am drastischsten in der damals skandalösen Folterszene exemplifiziert. Aber auch sie findet sich schon in der ersten Szene in der guten Argumentation von Mr. Pink, dass Trinkgeldgeben nur eine willkürliche gesellschaftliche Konvention ist mit der er die vorherschende Moral anzweifelt.

Die These, dass es keine Wahrheit gibt, zeigt sich wiederum sehr schön in der Anekdote über den Gras-Deal, die Mr. Orange sich ausgedacht hat. Wir sehen in der Inszenierung erst verschiedene Probenphasen der Geschichte, dann, wie Orange sie den Dogs erzählt und springen dann in die Geschichte hinein, als wäre sie doch tatsächlich passiert. Mit dieser Geschichte in der Geschichte in der Geschichte führt uns Tarantino vor Augen, dass es keine Wahrheit gibt.

Auch dass wir den Heist nicht sehen, sondern nur in Form von Botenberichten erzählt bekommen, also wieder als Erzählungen in der Erzählung, ist ein weiterer Aspekt, in dem Reservoir Dogs die These vertritt, dass es keine Wahrheit gibt.

Diese postmodernen Thesen kombiniert Tarantino mit Erlösungsgeschichten. Daraus ergibt sich die Frage, wie Erlösung in einer Welt aussieht, in der es keine absoluten Werte mehr gibt, in der Gott tot ist. Die vermeintliche Antwort, die Tarantino darauf gibt, ist „Erlösung durch Schmerz“. Das zeigt sich schon in der bekloppten Diskussion über Madonna, in der es darum geht, dass eine Frau beim Sex so viel Schmerz hat, dass sie sich wieder wie eine Jungfrau fühlt. Dieses Thema wird dann durch das Leiden von Mr. Orange aufgegriffen, welches ja mit einer Geburt assoziiert wird, an deren Ende die Erlösung vom Schmerz quasi durch den Schmerz der Geburt steht.

Die Beziehung von White und Orange

Behalten wir, das oben geschriebene zu Geschlechterrollen, zur Erlösung und zum postmodernen Kino im Auge und betrachten wir die Beziehung von Mr. White und Mr. Orange.

Ebenfalls in der ersten Szene wird schon etabliert, dass White und Orange eine enge Beziehung haben, indem sie eng nebeneinander im Diner sitzen. Die beiden haben ein sehr inniges geradezu intimes Verhältnis, wie Brüder oder wie Vater und Sohn. Die Beziehung der beiden ist fast inszeniert wie in einem Liebesfilm. Mr. White geht ungewöhnlich zärtlich mit Mr. Orange um, besonders mit Blick darauf, wie demonstrativ männlich Reservoir Dogs ist. Mr. Oranges Verletzung wird dabei gewissermaßen als Entschuldigung dafür angeführt, sodass keine Homoerotik aufkommt:

„In the war film, a soldier can hold his buddy—as long as his buddy is dying on the battlefield. In the western, Butch Cassidy can wash the Sundance Kid’s naked flesh—as long as it is wounded. In the boxing film, a trainer can rub the well-developed torso and sinewy back of his protege—as long as it is bruised. In the crime film, a mob lieutenant can embrace his boss like a lover—as long as he is riddled with bullets. Violence makes the homoeroticism of many “male” genres invisible; it is a structural mechanism of plausible deniability.“

Kent Brintnall’s Tarantino’s Incarnational Theology: Reservoir Dogs, Crucifixions and Spectacular Violence zitiert nach Randomaniac.

Aber di Verletzung von Orange hat noch eine andere Bedeutung. Mr. Orange hat eine Doppelrolle: Als Verräter ist er einerseits der Judas der Geschichte. Durch sein Leiden hat er in dieser Erlösungsgeschichte aber zugleich die Rolle des Jesus‘ inne. Das führt uns Tarantino ultimativ in der letzten Szene vor Augen:

Still aus der letzten Szene von Reservoir Dogs

Still aus der letzten Szene von Reservoir Dogs

Hiermit spiegelt er Michelangelos berühmte Skulptur von Maria, die den sterbenden Jesus im Schoß hält, die Pietà:

Michelangelos Pietà

Michelangelos Pietà

Mit dieser letzten Szene hat Tarantino eine Klammer um seinen Film gelegt: Er beginnt ihn mit Schmerz und Madonna in einer sehr albernen Form und lässt ihn enden mit Schmerz und Madonna in einer sehr ernsten Form. Und er verdeutlicht uns, dass die Beziehung von White und Orange gewissermaßen eine Mutter-Sohn-Beziehung ist. Doch bringt sie auch Erlösung?

„However, because the universe that these characters inhabit is a postmodern one, their attempts at redemption are bound to fail, one way of living being, according to postmodernism, morally equal to any other way.“

Metaphilm

Da es keine absolute Moral in diesem postmodernen Universum gibt, muss der Versuch, erlöst zu werden, scheitern. Denn eine Art zu leben ist genauso gut oder schlecht wie jede andere. Es gibt keine Autorität mehr die entscheidet, ob du tugendhaft bist. Wir argumentieren heute am ehesten mit gesellschaftlichen Werten (ein Grund, warum Tarantino so viel Popkultur in seine Filme einwebt).

So endet der Film dann auch damit, dass Orange gesteht, dass er der Verräter ist. White erschießt daraufhin Orange und wird von der Polizei erschossen.

Die Folterszene

Die damals skandalöse Folterszene ist in ihrer Verdichtung die Entscheidende Szene an deren Ende klar ist, dass Mr. Orange der Verräter ist.

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Interessant an der Szene ist die Verwendung des Songs „Stuck in the middle with you“. Statt das Gezeigte mit dramatischer Musik zu untermalen, wählt Tarantino einen Song, der als Kontrapunkt funktioniert. Das bewirkt aber gerade, dass Mr. Blonde noch entrückter, noch psychopathischer wird.

Dies wird dann noch einmal verstärkt, als Blonde mitten in der Szene das Lagerhaus verlässt, um den Benzinkanister zu holen. Die diegetische Musik endet in diesem Moment und draußen ist ein schöner, sonniger Tag, wir hören Kinder und dann kehren wir in das Lagerhaus mit seinem Grauen zurück. Dies unterstützt die Vorstellung, dass eine so schreckliche Tat in unserer Nachbarschaft geschehen könnte, ohne dass wir sie bemerken und verstärkt so den Schrecken.

Interessant ist außerdem, dass die Kamera uns die eigentliche Folter nicht zeigt. Die Schnitte mit dem Rasiermesser werden ähnlich wie in der Duschszene von Psycho so geschickt geschnitten, dass wir glauben, sie zu sehen, ohne sie zu sehen. Als Blonde dann das Ohr des Polizisten abschneidet, dreht die Kamera weg, als könnte sie selbst nicht ertragen, was gerade geschieht. Erst als der eigentliche Akt des Foltern vorbei ist, sehen wir die Gore-Effekte.

Unchronologisches Erzählen

Während Pulp Fiction die traditionelle Storyline komplett aufgibt und nur noch fragmentarisch erzählt, beginnt dieses weitere Element des postmodernen Kinos bereits in Reservoir Dogs. Wenngleich der Film die traditionelle Story-Line noch nicht komplett aufgibt, so bricht er sie doch auf.

Der Heist-Movie war seit Rififi sehr formelhaft aufgebaut: Wir sehen das Casting der Crew, die Planung des Heists, die Durchführung des Heists, bei der etwas schiefgeht und improvisiert werden muss und die Konsequenzen des Heists.

Reservoir Dogs auf der anderen Seite lässt den Heist als den Dreh und Angelpunkt des Plotts komplett weg. Nach einem vom Plott unabhängigen Prolog steigen wir direkt in die Konsequenzen des Heists ein und bekommen in Rückblenden das Casting erzählt. Wir sehen auch nicht die Planung des Heists, stattdessen sehen wir die Planung der Undercover-Rolle von Mr. Orange. Den Heist selbst bekommen wir nur in Form von Botenberichten erzählt.

Die Dialoge

Schon in Reservoir Dogs bekommen wir die berühmt gewordenen Tarantino-Dialoge zu hören: Die Protagonisten unterhalten sich auf sehr unterhaltsame Art und Weise über irgendetwas sehr Banales. Hier die im Podcast angesprochene schöne Analyse der Dialoge von Tarantino:

Youtube

Die Protagonisten

„For Tarantino, it’s all about the characters, the chaos, the relationships under pressure, and of course the delicious dialogue, strewn with entertaining asides, entertaining stories, and gallows humor.“

TCM

Psychology Today hat analysiert, unter welchen Persönlichkeitsstörungen die Protagonisten leiden:

  • Mr. Blonde ist demnach ein sadistischer Psychopath
  • Mr. Pink ist ein Psychopath mit paranoiden Zügen
  • Mr. White ist ein Soziopath
  • Und Mr. Orange hat eine narzisstische Persönlichkeitsstörung

Kritikpunkte

Wir besprachen Kritikpunkte, die Reservoir Dogs entgegengebracht wurden:

  • Paula kritisiert, die Darstellung, dass das erste Mal Frauen, immer Schmerzen bereitet.
  • Es gibt auch heute noch den Vorwurf, dass Reservoir Dogs ein Plagiat von City on Fire ist:
    Wer das behauptet, hat einen der beiden Filme nicht gesehen. Zwar tauchen viele Plottpunkte von Reservoir Dogs in City on Fire auf, dort spielen sie aber eine untergeordnete Rolle, während Tarantino sie zum Dreh und Angelpunkt des Films erhebt. Somit kann nicht die Rede sein von einem Plagiat.
  • Muss der Film so gewalttätig sein?
    Die explizite Gewalt war sicherlich eine Provokation. Schließlich hat Tarantino damit einen Trend angestoßen. Als Filmnerd hat er diese Elemente aus dem Horrorfilm übernommen und dem breiten Publikum vorgeführt. Speziell bei Dogs trägt die Gewalt auch viel zum Realismus bei, anders als in späteren Filmen wird sie hier nicht als Comic Relief verwendet, sondern um das Drama zu unterstützen.
  • Der Film ist Style over Substance:
    Paula räumt ein, dass die Geschichte sehr einfach gestrickt ist. Daniel und Mathias sehen darin kein Problem und vertreten die These, dass große Geschichten nicht unbedingt kompliziert sein müssen.
  • Tarantino ist ein schlechter Schauspieler.
    Mathias bestätigt diesen Vorwurf: „Ich finde Tarantino tatsächlich immer grenzwertig in seinen Filmen“.
  • Everybody sounds the same – Die verschiedenen Rollen sind noch nicht so nuanciert wie in späteren Werken, sondern im Grunde stehen hier eine Handvoll Tarantinos vor der Kamera, die alle die gleiche Attitüde haben:
    Paula wendet ein, dass das absolutes Nitpicking ist. Der Film ist gut und jemand hat verzweifelt nach irgendeinem Kritikpunkt gesucht.
  • Nach der Eröffnungsszene fällt die Qualität ab:
    Können wir nicht nachvollziehen. Das Drama im Lagerhaus ist großartig.
  • Der Filmfehler im Mexican Standoff:
    Er ist uns ohne das vorherige Wissen gar nicht aufgefallen, da das Drama funktioniert, gilt der Grundsatz – Wirkung geht über Realismus.
  • Paula kritisiert die Rückblenden, der Film hätte auch als komplettes Kammerspiel funktioniert.

Eastereggs & Tarantinos Universum

  • In der Szene, in der Mr. Pink vor der Polizei flieht, hört man den Wilhelmschrei.
  • In der Szene wiederum, in der Mr. Blonde den anderen zeigt, dass er einen Cop gefangen hat, sehen wir zum ersten Mal Tarantinos Markenzeichen: den Trunkshot.
  • Mr. Blondes bürgerlicher Name ist Vic Vega. In einem Interview verriet Tarantino, dass er der Bruder von Vincent Vega aus Pulp Fiction ist.
  • In Reservoir Dogs wird in einer Szene eine Krankenschwester namens Bonnie erwähnt, in Pulp Fiction ist sie die Frau von Jimmie, bie dem Vincent und Jules das Auto putzen müssen, bevor Bonnie nach Hause kommt.
  • An einer Stelle in Dogs läuft Radiowerbung für „Jack Rabbit Slim’s“
  • In Mr. Whites Flashback, sprechen er und Joe über Alabama: Patricia Arquettes Character aus True Romance.
  • Da Tarantino kein Productplacement mag, wird auch hier schon Red Apples geraucht.
  • Außerdem trinkt Mr. Blonde aus einem Pappbecher von Big Kahuna Burger, als er im Lagerhaus ankommt.
  • Radio K-Billy gab es schon im zerstörten eigentlichen Debüt von Tarantino „My Best Friend’s Birthday“. Mr White heißt in Dogs Larry Dimmick. In Pulp Fiction spielt Harvey Keitel Jimmy Dimmick.

Zitate & Referenzen

  • Rashomon (1950) ist gewissermaßen die Mutter des nichtlinearen Erzählens.
  • Kansas City Confidential (1952): Der Plott von Reservoir Dogs soll durch diesen Film inspiriert worden sein.
  • Rififi (1955): ist wiederum die Mutter des Heist-Movies. Außerdem gibt es eine Folterszene mit einem Rasiermesser.
  • The Killing (1956): Hier kommt schon der schiefgegangene Heist sowie das unchronologisches Erzählen vor.
  • Bande à part (1964): Tarantinos Produktionsfirma heißt “A Band Apart”, das referenziert Godards Film. Außerdem wird wohl einmal erwähnt, dass der Juwelier “Karina’s” heißt. Er ist nach der Schauspielerin Anna Karina benannt, die die Hauptrolle in Bande à part spielt.
  • In Django (1966) wird auch jemandem ein Ohr abgeschnitten.
  • Mr. Blonde referenziert Blondie aus The Good, The Bad And The Ugly (1966)
  • Die Idee mit den Farb-Pseudonymen übernahm Tarantino aus The Taking of Pelham One Two Three (1974)
  • Wenn Mr. Blonde während der Folterszene aus dem Lagerhaus läuft ist das inspiriert durch Brian De Palmas Scarface (1983):

„the camera drifting away from the chainsaw dismemberment, out the window, and across the street to where the victim’s pals are chatting up some pretty girls serves essentially the same function.“

A. V. Club

  • In City on Fire (1987) tauchen bereits große Teile des Plotts auf: Ein Undercover-Cop wird in eine Gruppe Juwelendiebe eingeschleust, der Heist geht schief, der Cop wird angeschossen. Sie fliehen in ein Lagerhaus, dort wird diskutiert, wer der Verräter ist un es kommt zum Mexican Standoff, am Ende stürmt die Polizei das Lagerhaus und alle sterben. Diese Handlungsaspekte machen aber nur einen kleinen Teil in City on Fire aus.

Die Rezeption von Reservoir Dogs

Reservoir Dogs auf den Festivals

Reservoir Dogs feierte seine Premiere beim Sundance Filmfestival 1992. Es war der am heißesten diskutierte Film des Jahres auf dem Festival. Und dass er keinen Preis gewann, lag mutmaßlich an einer Panne bei seiner Aufführung: RD war im Breitbildformat gefilmt worden, wurde aber bei der ersten Aufführung in einem Kino gezeigt, das nicht auf Breitbild ausgelegt war. Das führte dazu dass große Teile des Bildes links und rechts der Leinwand auf den Vorhang projiziert wurden. In der Mitte des Films sprang Tarantino auf und schrie, man solle den Film abbrechen, er könne das nicht länger ertragen. Es sei vielleicht der einzige Film, den er je drehen würde und das Kino würde alles verderben! Dieser Vorfall hat übrigens dazu geführt, dass alle Kinos auf dem Sundance seitdem Breitbild projizieren können müssen.

Als Reservoir Dogs auf dem Sitges Film Festival lief, verließen viele Zuschauer den Film während der Folterszene. Unter ihnen war auch Wes Craven. Craven sagte später, in der Lobby des Kinos wäre ein junger Mann auf ihn zugekommen und hätte gefragt

‘You’re Wes Craven, right?’

Als Craven das bestätigte, freute sich der junge Mann:

‘I just scared Wes Craven!’

– Es war Quentin Tarantino.

Dogs lief auch in Cannes, allerdings außerhalb des Wettbewerbs in einer Reihe von Mitternachtsvorführungen. Dort wurden die Produzenten Harvey und Bob Weinstein darauf aufmerksam. Sie kauften die Rechte für Miramax, aber vor allem nahmen sie Tarantino unter Vertrag und finanzierten Pulp Fiction.

Die Kritiken zu Reservoir Dogs

Insgesamt erhielt Reservoir Dogs gute Kritiken, allerdings wurde die Gewalt sehr harsch kritisiert. berühmte Fernsehsendung Siskel and Ebert gab „two thumbs down“, wobei Roger Ebert Tarantinos Talent anerkannte, nur meinte, er habe es nicht ausgeschöpft. Er urteilte, dass er durchaus mochte, was er sah. Er aber mehr sehen wollte.

Die Filmkritikerin Jami Bernard (Nachtrag zum Podcast: In der Folge sprachen wir von ihr, wie von einem Mann. Wir bitten um Entschuldigung) von der New York Daily News verglich Reservoir Dogs mit der Legende von L’Arrivée d’un Train en Gare de la Ciotat (1895), bei dem das Publikum ja aufgesprungen sein soll, weil ein Zug auf sie zu raste. Die Geschichte ist nicht wahr, aber Bernard wollte darauf hinaus, dass das Publikum von 1992 einfach noch nicht bereit sei für Reservoir Dogs.

Das Einspielergebnis

In Amerika spielte der Film mit 2,8 Millionen durchaus einen Achtungserfolg ein. Wurde dann aber auf dem VHS-Markt erst zum richtigen Kassenschlager. Reservoir Dogs war aber vor allem im UK sehr erfolgreich, wo er 6,5 Millionen Pfund einspielte und nicht zuletzt die große Welle der britischen Gangsterkomödien anstieß.

Einfluss & Kontroverse

Amy Nicholson vom Podcast The Canon erzählte in der Sendung, dass sie in den 90ern mal als Kuratorin für Sundance gearbeitet hat. In den Jahren nach Reservoir Dogs gab es wohl unglaublich viele Indie Filme, die Tarantinos Film imitierten.

„It was also enormously influential, inspiring a whole cottage industry of second-rate (and worse) imitators making crime films with brutal acts of violence, foul language, idiosyncratic dialogue, homages to other (better films), and „clever“ twists, most of which ended up going straight to video. Those films missed Tarantino’s most creative contributions to the crime genre: his love of movies, his gift for creating distinctive characters, and his playful approach to storytelling. Where copycats try to show off their hipness by making a point of referencing cult movies, Tarantino never drew attention to his homages. It wasn’t the quote that mattered, it was how the idea was reworked in a new context to become a piece of cinema storytelling in its own right.“

Turner Classic Movies

Obwohl er im Kino ein so großer Erfolg gewesn war, erhielt er im UK erst 1995 einen Video-Release, da dort eine Gewalt-Debatte in Politik und Öffentlichkeit eine frühere Veröffentlichung verhinderte. Aufgrund der Gewaltdarstellung hatte RD erst am 7. Mai 2009 nach 17 Jahren im WDR die Erstausstrahlung im deutschen Free-TV.

2012 gab es eine szenische Lesung des Drehbuchs mit ausschließlich schwarzen Schauspielern, darunter Laurence Fishburne, Cuba Gooding Jr. und Anthony Mackie.

Als Madonna später Tarantino traf, schenkte sie ihm eine Kopie ihres Albums „Erotica“, die handsigniert war mit:

„To Quentin. It’s not about dick, it’s about love. Madonna.“

Preise und Bestenlisten

  • Bei den Independent Spirit Awards 1993 erhielt Steve Buscemi den Preis für die beste männliche Nebenrolle
  • Beim Toronto International Film Festival 1992 erhielt Tarantino den International Critics‘ Award
  • In der IMDB Top 250 steht Reservoir Dogs auf Platz 75 (Juli 2016)
  • Das Magazin „Premiere“ wählte ihn zu einem der „The 25 Most Dangerous Movies“.
  • Empire wiederum wählte RD zum „Greatest Independent Film of all Time“
  • Außerdem landete er bei Empire auf Platz 97 in der Liste „the 500 Greatest Films of All Time“
  • Auch Reservoir Dogs befindet sich in „1001 Movies You Must See Before You Die“ von Steven Schneider

Lesenswert, Sehenswert & Hörenswert

Podcasts

Funfacts

Essays & Analysen

Interviews

The End.

SF60 – Das Fenster zum Hof (Hitchcock-Reihe)

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Daniel
Verkannter Regisseur


Rear Windows Ethics

Uns ist schon jetzt das Budget für 2016 ausgegangen, daher greifen wie in die 90er-Sitcom-Trickkiste und machen eine Clipshow. Wir blicken zurück auf das Jahr 2015 und voraus auf 2016. Aber natürlich besprechen wir auch einen Film: Hitchs Rear Window. Alles dreht sich dabei nicht bloß um die den voyeuristischen Abschied vom Mähnenwolf sondern auch um die Frage, ob wir eine neue Nummer 1 gefunden haben.

Vorgeplänkel

Paula zitiert Til Schweiger (frei) ♦ Bottle-Episode und Clipshow ♦ Wir werden uns dem Lebenswerk eines Regisseurs widmen und ihr könnt eine DVD von Night of the living Death gewinnen, wenn ihr wisst, welcher Regisseur das sein wird (Daniel hat das in den letzten Monaten immer mal wieder versteckt angeteasert) ♦ Außerdem dürft ihr abstimmen, welchen Film wir besprechen sollen ♦ Wir gedenken der Filmographie von David Bowie ♦ Paula beantwortete diese Frage ♦ Der Story-Arc des Mähnenwolfs ist abgeschlossen, 2016 hört ihr stattdessen etwas über die „Retter von New York“.

Die Eckdaten zu Rear Window

Erscheinungsjahr: 1954
Regie: Alfred Hitchcock
Drehbuch: John Michael Hayes
Bugdet: 1 Mio $
Besetzung: James Stewart (Jeff), Grace Kelly (Lisa), Raymond Burr (Thorwald), Thelma Ritter (Stella).
Genre: Thriller, Krimikomödie

Die Produktion von Das Fenster zum Hof

Das Drehbuch

Als Vorlage diente eine Kurzgeschichte von Cornell Woolrich (unter dem Pseudonym William Irish 1942 veröffentlicht). Zudem ergänzte Hitch diese Geschichte durch zwei reale Mordfälle: Zum einen die Idee, dass die Leiche zerhackt im Koffer davongetragen wurde; zum anderen das vermeintliche Alibi durch eine Afäre. Hitchcock und Drehbuchautor Hayes behielten von der Kurzgeschichte letztlich nur die Grundidee.

Das Casting

Ungewöhnlich für die Zeit war, dass James Stewart statt einer festen Gage einen Gewinnanteil bekam. Rear Window war ferner Grace Kellys zweiter Hitch nach Dial M For Murder. Die Rolle wurde ihr auf den Leib geschrieben. Hitch arrangierte, dass Kelly und Drehbuchautor John Michael Hayes Zeit zusammen verbringen, damit Hayes Kellys Charakter kennenlernt. Außerdem gibt es das Gerücht, dass Hitch Raymond Burr persönlich als den Mörder Thorwald gecastet hat. Angeblich soll es wegen der großen Ähnlichkeit zu Hitchs ehemaligen Produzenten David O. Selznick gewesen sein, dem Hitch eins auswischen wollte.

Die Kulisse

Der komplette Film wurde im Studio gedreht, dafür wurde der Hinterhof mit den 31 weiteren Wohnungen neben der von Jeff gebaut, zwölf Wohnungen waren vollständig eingerichtet. Es war das damals größte Set aller Zeiten.

The studio set is a copy of a real place, in Greenwich Village in New York. It is a precise copy of the environment, and takes precise note of the distance of the police station from the apartments, thus the police could have arrived there in about 5 minutes, as the film shows them doing.

Cinema Culture in Europe

Weil die Häuserfront zu hoch war für das Studio, ließ Hitch den Boden rausreißen. Der Hinterhof ist also eigentlich der Keller des Studios. Alle Wohnungen hatten Strom und fließend Wasser. Das Tageslicht wurde von einer Studiobeleuchtung simuliert. Es gab vier verschiedene Lichtarrangements für verschiedene Tages und Nachtzeiten. Das führte allerdings zu unerträglicher Hitze auf dem Set. Einmal wurde sogar die Sprinkleranlage ausgelöst, weil das Studio durch die vielen Scheinwerfer überhitzte.

Der Dreh

Hitch plante alles obsessiv durch, er schrieb am Drehbuch mit, er castete die wichtigsten Rollen und hatte zum Beispiel auch detaillierte Vorstellungen, wie die Kostüme von Grace Kelly aussehen sollten. Die extrem sorgfältige Planung führte dazu, dass Hitch später sagte, er habe den gesamten Film schon vor Drehbeginn im Kopf gehabt, sodass der eigentliche Dreh für ihn ziemlich langweilig war.

Hitch selbst hielt sich während des Drehs nur in Jeffs Apartment auf. Alle Schauspieler hatten Knöpfe im Ohr, über die sie Regieanweisungen bekamen. In der Szene, in der das Pärchen mit Matratze vom Balkon flüchten muss, weil es zu regnen anfängt gab Hitchcock ihnen extra widersprüchliche Regieanweisungen über Funk, damit sie sich stritten, was dann im Film zu sehen ist.

Filmisches Erzählen in Rear Window

Die erste und die letzte Szene

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In der erste Szene bekommen wir jede Menge Informationen von der Kamera bevor überhaupt der erste Dialog beginnt. Ein Paradebeispiel für eine gute erzählende Kamera. Zunächst bekommen wir einen Schwenk über den Hof, in dem wir alle Mini-Dramen eingeführt bekommen, die im Laufe des Films parallel zur Haupthandlung erzählt werden. Wir sehen das Thermometer und erfahren so, dass es sehr heiß ist. Wir sehen die Fotos in Jeffs Apartment und lernen so, dass er Fotograph ist und welche Art von Bilder er macht. Wir sehen das Bild des Autounfalls und die zerstörte Kamera, die uns darauf hinweisen, wie Jeff sich das Bein gebrochen hat. Wir sehen ein Negativ von Lisa, Jeffs Love-Interest, und bekommen so einen Hinweis auf Jeffs Einstellung in Bezug auf Lisa, außerdem wird uns ein Stapel Magazine mit Lisa auf dem Cover gezeigt, wodurch wir auch noch erfahren, welchen Job und Status Lisa hat. Und wir sehen den schwitzenden Jeff im Rollstuhl mit Gips, auf dem Lisa unterschrieben hat: „Here lie the broken bones of L. B. Jefferies“, wodurch wir auch noch einen Hinweis auf Lisas humorvollen Charakter bekommen. Das ist wirklich die ganz große Kunst des filmischen Erzählens!

Am Ende spiegelt Hitchcock dann diese Kamerafahrt:

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Im Hof sehen wir die Konklusion aller Minidramen, wir sehen wieder das Thermometer, das eine geringere Temperatur anzeigt, wir sehen Jeff nun mit zwei Gipsbeinen und Lisa in praktischer Kleidung (erstmals im Film trägt sie Hosen), die eine Abenteuerbuch liest, das sie dann aber, als sie merkt, dass Jeff schläft, gegen ein Magazin tauscht.

Each narrative is given it’s own closure: a new dog is introduced, Miss Lonely hearts is visiting with the songwriter, Miss Torso’s boyfriend comes home from the army, and Lars’ apartment is being painted over to get ready for new tenants. The final shot of the film shows the blinds of the rear window closing, hiding the cinematic world as the film draws to a close.

The Artifice

Reflexionen über die Beziehungen zwischen Männern und Frauen

Hitchcock nutzt die angesprochenen Minidramen in den verschiedenen Hinterhoffenstern, um Statements über die Liebe und die Ehe zu machen. Von links nach rechts sehen wir:

  • Die Frischverheirateten: Symbol der noch jungen Liebe, die den ganzen Tag Sex haben. Am Ende ist dort aber der Alltag eingekehrt und sie streiten sich.
  • Miss Torso: Die heißbegehrte Single-Frau, die von unzähligen Männern umworben wird. Am Ende zeigt sich, dass sie ihrem Freund, einem Soldaten, treu geblieben ist.
  • Das Ehepaar, das auf dem Balkon schläft: Dies ist die normale, gut laufende, routinierte Beziehung.
  • Die Thorvalds stehen für die zerrüttete Ehe.
  • Miss Lonelyheart ist die alte Jungfer, die sich nach der Liebe sehnt, ohne sie zu finden.
  • Der Komponist schließlich ist der ewiger Junggeselle, der ein Workaholic ist, Partys schmeißt, doch am Ende die Liebe (Miss Lonelyheart) findet.

Starke Frauen, schwache Männer

Rear Window fällt auf eigentümliche Art und Weise aus den sonst sehr problematischen Frauenbildern bei Hitchcock heraus. Einerseits stecken durchaus Rollen-Klischees der 50er in diesem Film (Lisa will heiraten, Jeff nicht, Jeff ist der Abenteurer, den Lisa domestizieren will etc.). Außerdem gilt der Film als Paradebeispiel für Male Gaze, den männlichen Blick des Kinos: Wir sehen alles aus Jeffs Perspektive, der als Voyeur Frauen objektifiziert.

Auf der anderen Seite haben wir aber einen buchstäblich impotenten Helden. Durch seinen Gips bleibt Jeff während des ganzen Films passiv. Selbst im Showdown kann Jeff nicht aktiv werden sondern versucht den Villain durch Blitzlicht zu blenden und so zu verlangsamen. Damit schiebt er das Unvermeidliche aber nur hinaus. Auf der anderen Seite werden die beiden Frauen (Lisa und Stella) aktiv, sie übernehmen die Action. Stella und Lisa spionieren bei Thorvald und begeben sich in Gefahr und im Showdown wartet Jeff auf Lisa, die die Polizei holt. Allerdings bleibt Jef auch jederzeit derjenige, der die Fäden in der Hand hält und die Frauen rumschickt.

Voyeurismus

Jeff ist ein übler Voyeur, der den ganz Tag am Fenster hockt, um seine Nachbarn zu beobachten.  Hitchcock hält damit aber uns Zuschauer/innnen den Spiegel vor. Dies wird besonders in der Szene sichtbar, als Jeffs Freund von der Polizei ihm und Lisa erzählt, dass Thorvald kein Mörder ist. Hitch manipuliert uns hier, denn wir sind genau wie Jeff und Lisa enttäuscht, dass kein Mord stattgefunden hat. Später lässt er dann Lisa aussprechen (im „Rear Window Ethics“-Zitat zu hören), dass wir eigentlich pervers sind, dass wir wollen, dass Throvald seine Frau umgebracht hat.

Zentral ist hier die Szene in der die Balkon-Nachbarn herausfinden, dass ihr Hund umgebracht wurde und die Frau durch den Hof schreiend die Nachbarn anklagt, dass sich niemand emphatisch für die anderen interessiert. Dies ist eine klare Anklage auch gegen den Voyeur Jeff. Der später zum Beispiel den Suizid von Miss Lonelyheart in Kauf nimmt, weil ihn sein Kriminalfall mehr interessiert.

Filme über Wachung

Darüber hinaus ist Rear Window natürlich auch ein Überwachungsfilm und wir fragten uns, wie Überwachung inszeniert wird. Hitch kritisiert einerseits in Person von Stella die Überwachung durch Jeff, andererseits führt sie letztlich zum Erfolg. Darin zeigt sich das Überwachungsdilemma: Mittels Überwachung lassen sich Straftaten aufklären, zugleich gibt es viele unschuldige Opfer. So beglotzt Jeff den ganzen Tag Miss Torso, die in ihrer Unterwäsche in ihrer Wohnung umherläuft.

Allerdings wird hier durch Lisas Einbruch auch der Trope bedient, dass die Ermittlerin die Regeln oder Gesetze brechen muss für das größere Gut. Ein sehr klassisches aber auch sehr problematisches Erzählmuster.

Wie manipuliert uns Hitch?

Der Kuleshov-Effekt

Hitchcock arbeitet in Das Fenster zum Hof intensiv mit Reaction Shots. er zeigt uns immer Szenen auf dem Hof und dann anschließend das Gesicht von Jeff, das uns zeigt, wie wir die Szene zu interpretieren haben. Dabei wiederholt Hitch aber den Kuleshov-Effekt:

„The Russian film theorist [Kuleshov] noted how you could take a shot of an actor’s essentially blank face and, depending on what you intercut with it, change what the audience believes to be the emotion the actor is expressing.“

TCM

Wie effektiv Hitchcocks Montage war, zeigt eine Aussage von Jimmy Stuart. Stuart sagte in einem Interview, er könne sich gar nicht daran erinnern, den Charakter so gespielt zu haben.

High-Angle-Shot

In vielen Filmen benutzt Hitch genau einen High-Angle-Shot um eine zentrale Szene herauszustellen. In Das Fenster zum Hof setzt er ihn ein, als Jeff den Brief schreibt, in dem er Thorvald wissen lässt, dass er und Lisa von dem Mord wissen. Dieser Moment ist zentral, weil hier Jeff und Lisa nicht länger nur Beobachter sind, sondern sich erstmals aktiv ins Geschehen einmischen.

Treppen und Leitern

Hitch benutzt oft Treppen und Leitern, um von einer gefahrlosen in eine gefährliche Situation überzugehen. Die Treppe in Psycho oder das berühmte Treppenhaus aus Vertigo sind Beispiele. Hier steigt Lisa die Feuerleiter hoch, um in Thorvalds Wohnung einzubrechen.

The Emerging-Body-Shot

Hitchcock wählt seine Frames oft so, dass eine wichtige Information – oft eben eine Person –  zwischenzeitlich verborgen bleibt, um so Spannung aufzubauen. Hier benutzt er die Zwischenräume zwischen den Fenstern, um uns im Ungewissen zu lassen, was die Protagonisten dort tun, besonders natürlich in der Szene, als Lisa bei Thorvald eingebrochen ist.:

Hitch uses the walls between windows as anxiety-packed hiding places. Characters move from one window to the next, and when they disappear behind walls in the transitional space, we hold our breath to see if they emerge on the other side.

Jason Fraley

Hitchcocks Cameo

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Wir sehen Hitchcocks Cameo sehr früh im Film, als er in der Wohnung des Komponisten eine Uhr einstellt. Zu diesem Zeitpunkt seiner Karriere war das Hitchcock-Cameo schon so berühmt, dass er es immer bewusst an den Anfang seiner Filme packte, sodass die Zuschauer nicht länger darauf warten mussten, sondern sich auf den Film konzentrieren konnten.

Das Interessante ist, dass Hitch uns vermeintlich anguckt und später gespiegelt wird durch die Szene, in der Thorvald Jeff enttarnt, ihn und damit auch uns direkt anblickt. Die vierte Wand wird durchbrochen, um uns als Voyeure zu entlarven.

Der Ton in Das Fenster zum Hof

In Rear Window wird nur diegetischer Ton verwendet: Abgesehen vom Intro und Outro gibt es nur Ton, der seinen Ursprung in der filmischen Welt hat. Dennoch hat der Film Filmmusik, die dann aber immer eine Quelle im Hof hat. Allem voran ist diese Quelle der Komponist, der das Hauptthema „Lisa’s Theme“ im Laufe des Film komponiert und gerade in dem Moment, in dem Lisa bei Thorvald einbricht, um ihn zu überführen, stellt er es fertig. Der Moment, in dem Lisas Metamorphose zur Abenteurerin vollendet ist. Zugleich hält das Lied in einer der Nebenhandlungen Miss Lonelyheart davon ab, sich das Leben zu nehmen.

Nachtrag zum Podcast: Das Lied, das in den 1930ern (nicht 20ern) bekannt wurde, weil es so traurig war, dass es angeblich Menschen in den Suizid trieb war Szomorú Vasárnap (Gloomy Sunday).

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Die Rezeption von Das Fenster zum Hof

Rear Window war ein Riesenerfolg und spielte allein in den USA mit allen Re-Releases 36,8 Mio $ ein. Der Film ist der dritte, der Five Lost Hitchcocks, den wir hier besprechen (nach Vertigo und The Trouble with Harry), also jener Filme, deren Rechte bei Hitch lagen und die er nach der Kinovorführung bis zu seinem Tod unter Verschluss hielt. 1967 wurden die Filmnegative von Rear Window bei einem Brand zerstört. 1999 wurde der Film restauriert.

Preise & Bestenlisten

Zitate & Referenzen

Der Film bietet sich aufgrund des begrenzten Plotts gut an für Remakes oder Hommagen. Es gibt wirklich sehr viele verschiedene Adaptionen des Grundsettings, in dem ein Protagonist an sein Zimmer gefesselt ist und etwas schreckliches beobachtet. So wurde er etwa 1998 mit dem querschnittsgelähmten Christopher Reeve in der Hauptrolle neuverfilmt.

Copyright Fuckup

2007 gab es mit Disturbia eine Neuinterpretation des Stoffs von Regisseur D. J. Caruso mit Shia LaBeouf in der Hauptrolle. 2008 verklagten die Rechteinhaber, der Sheldon Abend Trust, die an Disturbia beteiligten Produktionsfirmen, dass sie das Copyright verletzt hätten. Aber 2010 unterlagen sie vor Gericht.

Einige weitere Beispiele für Filme und Serien, die das Grundthema aufgriffen oder variierten:

  •  Brian DePalma, der großer Hitch-Fan ist und unzählige Referenzen in seine Filme einbaut, verwendete in Sisters (1973) und Body Double (1984) das Motiv der spionierenden Nachbarn.
  • Die Knight-Rider-Folge Halloween Knight (1984) ist eine Variation
  • In Woody Allens Manhattan Murder Mystery (1993) wird das Thema des obsessiven Verdachts gegen Nachbarn aufgegriffen
  • In The Simpsons: Bart of Darkness (1994) schlüpft Bart in die Rolle
  • Friends (1994) der Running-Gag mit „Ugly Naked Guy“ ist ebenfalls eine Referenz
  • In Robert ZemeckisWhat Lies Beneath (2000) wird das Thema am Anfang des Films aufgegriffen
  • Die fabelhafte Welt der Amelie (2001) zollt Hommage in Form des Charakters Raymond Dufayel
  • Intime Fremde (2004) benutzt das Szenario am Anfang um Voyeurismus als Leitmotiv zu etablieren
  • Scream 4 (2011): Rear Window wird immer wieder wörtlich referenziert, schließlich beobachten zwei Protagonisten einen Mord durchs Fenster auf der anderen Straßenseite.
  • In Person of Interest: Super (2012) tauchen neben vielen anderen Referenzen der Rollstuhl und das Fernglas auf.
  • Castle: The Lives of Others (2013) – Castle schlüpft in die Rolle.

Lesenswert & Sehenswert