We try not to make a habit of it
Als Kritik am Jurysystem treten unsere beiden Antihelden als Zeuginnen der Anklage auf. Paula und Daniel sinnieren nicht, sondern grübeln, wie sie den Zuschauer mit dem dreifachen Twist und drei Rückblenden hinters Licht der Verhörlampe führen können. Wir besprechen Billy Wilders Meisterwerk, in dem die Dietrich wieder singt und Hosen trägt.
Eckdaten
Originaltitel: Witness for the Prosecution
Erscheinungsjahr: 1957
Budget: 3 Mio. $
Regie: Billy Wilder
– Filmographie (Auswahl):
1944: Frau ohne Gewissen
1948: Eine auswärtige Affäre
1950: Sunset Boulevard
1954: Sabrina
1955: Das verflixte 7. Jahr
1957: Zeugin der Anklage
1959: Manche mögen’s heiß
1960: Das Appartement
1961: Eins, zwei, drei
1963: Das Mädchen Irma la Douce
1972: Avanti, Avanti
Besetzung: Marlene Dietrich, Charles Laughton, Tyrone Power
Genre: Gerichtsfilm, Gerichtsdrama, Whodunit, Literaturverfilmung
Der Film bei Amazon*.
Die Produktion
Der Film basiert auf dem gleichnamigen Buch von Agatha Christie. Das Buch hieß ursprünglich „Traitor’s Hands“, es wurde später aber unter „Witness for the Prosecution“ verlegt und Anfang der 50er als Theaterstück adaptiert. Die Rechte am Drehbuch waren damals die teuersten für ein Drama bis dato. Gerüchten zufolge soll Marlene Dietrich ihren Freund Billy Wilder überredet haben, den Film zu drehen, damit sie die Hauptrolle spielen kann.
„Wilder wildert im fremden Revier“, so Hellmuth Karasek*. Obwohl er durchaus Dramen wie Sunset Boulevard gemacht hatte, war und ist er eher für romantische Komödie bekannt. Zeugin war der letzte Film von Tyrone Power, der den Leonard Vole spielt. Power verstarb überraschend bei den Dreharbeiten seines nächsten Films. Nach Wilders Aussage war Charles Laughton, der Sir Wilfried spielt, der beste Schauspieler, mit dem er jemals gearbeitet hatte.
Der Film verbietet das Spoilern. Das wurde auch in der Werbekampagne zentral kommuniziert. Zum Beipiel wird schon im oben verlinkten Trailer dazu aufgefordert, nicht zu spoilern. Die Schauspieler bekamen die letzten 10 Seiten des Skripts erst kurz vor dem Dreh, damit sie das Ende nicht leaken konnten. Da frage ich mich spontan, warum niemand auf die Idee kam das Buch von Agatha Christie zu lesen… Der Legende nach soll Dietrich aufgrund der Geheimniskrämerei um eine Oscarnominierung gekommen sein. Ihr Auftritt als mysteriöse Frau ist mit einem starken amerikanischen Akzent versehen, um das Ende nicht zu verraten. Das soll angeblich dazu geführt haben, dass die Acadamy den Verdacht hatte, dass die Szene nachsynchronisiert wurde und deshalb die Dietrich nicht nominiert wurde. Im Deutschen sprach die Dietrich nicht selbst sondern wurde von Tilly Lauenstein synchronisiert.
Filmisches Erzählen
Wilder setzt auch in Zeugin der Anklage auf seine Stärken: die Komödie. Die teilweise enorme Spannung wird immer wieder durch komödiantische Intermezzi zwischen Sir Wilfried und seiner Krankenschwester aufgebrochen.
„Bereits in den ersten 10 Minuten musste ich ob der Dialoge zwischen ihm und seiner Pflegerin öfter lachen als im gesamten „Scary Movie 4“.“
Nichts ist so, wie es scheint
Das Leitmotiv des Films ist die Täuschung. So übernimmt Sir Wilfried den Fall eigentlich nur, weil er einen Vorwand braucht, um eine Zigarre zu schnorren. Sir Wilfried hintergeht fortlaufend seine Krankenschwester, die aber – wie man am Ende erfährt – eigentlich immer bescheid weiß.
Die Verhörlampe
Sir Wilfried setzt sein Monokel als Verhörlampe ein. Durch Reflexionen blendet er die Befragten in seinem Büro. Leonard Vole besteht den Test, er hält das Licht aus, erscheint somit unschuldig. Hingegen kann Christine das Licht nicht ertragen, scheint also falsch zu spielen. Unter der Prämisse, das nichts so ist, wie es scheint, erfahren wir dann aber, dass Vole eigentlich doch schuldig ist. Wir kommen im Podcast darauf, dass der filmische Code der Verhörlampe in zwei Varianten verwendet werden kann: Entweder als ‚Licht der Wahrheit‘, das der Böse nicht aushalten kann. So ertragen die Orks im Herr der Ringe kein Sonnenlicht. Oder als Folterinstrument des sadistischen Verhörführers. So in der Folge Geheime Mission auf Celtris Drei von Star Trek TNG.
Schwitzen = Schuld
Allerdings bekommen wir auch Indizien gezeigt, die uns auf Voles Schuld hinweisen sollen. So ist Vole im Gericht die ganze Zeit am schwitzen. Und wie Roland Barthes in „Die Römer im Film“ (zu finden in Mythen des Alltags*) zu sagen weiß, ist Schweiß ein Symbol der Schuld. Ein anderes Indiz ist, dass Vole im Zeugenstand sagt, er habe nie jemanden umgebracht, wir aber zuvor gehört haben, dass er Soldat im 2. Weltkrieg war.
Aufbruch der traditionellen Storyline
Der Film erzählt seine Geschichte nicht chronologisch. Durch Rückblenden wird die gerade Storyline aufgebrochen. Diese Rückblenden sind zudem noch einmal unchronologisch angeordnet. Damit steht der Film in einer Tradition, die mit Rashomon (1950) begann und mit Filmen wie Pulp Fiction und Memento noch heute fortgeführt wird.
Kritik am Geschworenengericht?
Es gibt verschiedene Interpretationen, die den Film als Kritik am Jurysystem ansehen. Demnach tendiere es nicht zur Wahrheitsfindung, weil der Anwalt zu viel Einfluss auf die Laien der Jury habe. Wir halten das aber für unplausibel, da der Protagonist des Films eindeutig der Anwalt Sir Wilfried ist. Die Kamera bleibt – außer in den Rückblenden – immer bei ihm, seine Rolle als rechtschaffender Anwalt wird nie in Zweifel gezogen.
Metaphern der Einschränkung
Im Gegenteil: Die Gesundheit von Sir Wilfrieds wird als Indikator genommen, wie das Verfahren läuft. Zudem wird ständig versucht durch äußere Faktoren den Anwalt zu beschränken. Beispielsweise ist in Sir Wilfrieds Wohnung ein Treppen-Lift installiert, ihm wird der Drogenkonsum versagt und eigentlich darf er auch nicht als Anwalt arbeiten.
Chekov’s gun
Eine sehr schöne Chekov’s gun ist die Geliebte von Leonard Vole. Sie wird als Komparsin eingeführt, die während des Prozesses neben Sir Wilfrieds Krankenschwester sitzt und mit ihr smalltalkt. Erst in der letzten Szene erfährt man von ihrer zentralen Rolle.
Puls fühlen
Ein wunderschönes Hollywood-Klischee ist der filmische Code des Pulsfühlens. Vole bekommt ein Messer in den Bauch gestochen, doch anstatt den Versuch zu unternehmen, die Blutung zu stillen, fühlt die Krankenschwester kurz seinen Puls um dann lapidar festzustellen, dass dem nicht mehr zu helfen ist…
Der Bechdel-Test
Im Film dominieren – Trotz des Titels – wieder einmal männliche Protagonisten. Der Bechdeltest wird nicht bestanden.
Zitate & Referenzen
Mit der Rückblende in das Nachkriegshamburg zitiert Wilder seinen eigenen Film ‚Eine auswärtige Affäre‘. Allerdings findet sich innerhalb dieser Rückblende auch eine Blauer-Engel-Referenz. Die Dietrich steht auf der Bühne in ihrem berühmten Hosen-Anzug als Symbol für die Hollywood-Marlene. Doch einer der randalierenden Soldaten zerreist ihr die Hose, sodass sie wieder mit nackten Beinen als blauer Engel auf der Bühne steht.
Dass Wilder im fremden Revier wildert zeigt er uns selbst indem er nahezu Eins zu eins, die Exposition von Dial M for Murder zitiert: Ein Bobby auf der Straße führt uns im ersten Bild sowohl ins Genre als auch in den Handlungsort ein.
Die Rezeption
„And the air in the courtroom fairly crackles with emotional electricity, until that staggering surprise in the last reel. Then the whole drama explodes.“
Der Film hat zwar kaum Preise gewonnen, einzig ein Golden Globe 1958 für die Beste Nebendarstellerin (Elsa Lanchester als Krankenschwester) ist zu verzeichnen, wird aber von der Kritik gefeiert. Das größte Lob für den Film kommt sicherlich von Agatha Christie selbst:
„Alles, was ich an Verfilmungen meiner Werke gesehen habe, fand ich ausgesprochen scheußlich, bis auf ‚Zeugin der Anklage‘ von Billy Wilder.“
Der zeitgenössische Spiegel lästerte zwar über die „chirurgisch straffgespannte Mimik der Hauptdarstellerin Marlene Dietrich“. Aber bei der Kritik-Übersichtsseite Rotten Tomatoes erhält der Film sage und schreibe 100% (Stand Januar 2014).
Im Jahre 2008 wählte das American Film Institute Zeugin der Anklage auf Platz 6 der 10 größten Gerichtsdramen aller Zeiten.
Zitate & Referenzen
Remington Steele: In the Steele of the Night (1982) wird der Treppenlift zitiert.
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