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1925 – The Phantom of the Opera

The Phantom of the Opera ist ein Film mit Licht und Schatten. Im gleißenden Licht stehen die eindrucksvollen Bauten, die Maske und die gruseligen, vom deutschen Expressionismus beeinflussten Bilder. Im tiefsten Schatten liegt hingegen das Drehbuch, das löchrig ist, wie ein Schweizer Käse.

Ein Set, so groß wie ein Fußballfeld

Wie schon Der Glöckner von Notre Dame, so war Das Phantom der Oper erneut eine Universal-Produktion mit Lon Chaney in der Titelrolle. Anscheinend war Universal in den 1920ern der Ort für die ganz großen Produktionen. So sollen die Kulissen des Opernhauses größer als ein Fußballfeld gewesen sein. Das Set stand noch bis ins Jahr 2014 und wurde für unzählige weitere Produktionen, wie zum Beispiel Hitchcocks Der zerrissene Vorhang benutzt.

Regie führte Rupert Julian, als Peter Jacksons Vorgänger war er der erste neuseeländische Hollywood-Regisseur. Aber der Star des Films ist fraglos Lon Chaney, der nicht zuletzt wegen dieser Rolle sich den Spitznamen „The Man of a Thousand Faces“ in Hollywood verdiente. Auch für diesen Film hatte er das Make-Up für das Phantom weitgehend selbst gestaltet und als große Attraktion wurde es bis zur Premiere geheim gehalten.

Spannend an dem Film ist weiterhin die Farbgebung. Neben der altbekannten Virage, bei der das Phantom übrigens zumeist in Matrix-Grün getunkt ist, sehen wir handcolorierte Bilder und sogar eine kurze Szene in Farbfilm! Gedreht in Two-Color-Technicolor sieht das zwar alles noch recht verwaschen aus, ist aber nichts desto trotz beeindruckend.

Filmisches Erzählen

Aufgefallen ist mir, dass in diesem 90-Minüter auch die noch heute übliche Dreiakt-Struktur etabliert ist: Nach 20 Minuten Exposition beginnt das Abenteuer im zweiten Akt und pünktlich zur vollen Stunde setzt der Show-Down im dritten Akt ein.

Rupert Julian: The Phantom of the Opera. Lizenz: gemeinfrei.

Rupert Julian: The Phantom of the Opera. Lizenz: gemeinfrei.

In diesem Film zeigt sich auch erstmals welchen enormen Eindruck das damals junge deutsche Kino auf Hollywood gemacht hatte. In seinem Spiel mit Schatten und teilweise geometrisch-abstrakten Kulissen in den unteren Stockwerken der Oper referenziert der Film eindeutig auf den deutschen Expressionismus, allen voran Das Cabinet des Dr. Caligari und Nosferatu.

Und wenn ich könnte, würde ich zeitgenössischen Horrorregisseuren die Sichtung dieses Films verordnen. Als großer Verachter von Jump-Scares und Torture-Porn, habe ich genossen, wie hier durch Abwesenheit der Horror erzeugt wird. Hier entsteht das Gruseln gerade durch das, was nicht im Bild zu sehen ist. Das mag nach 90 Jahren teilweise etwas altbacken und zu langsam inszeniert sein. Aber wenn wir zum Beispiel ganz am Anfang mit den Managern der Oper die Loge des Phantoms betreten und der Stuhl, auf dem es eben noch saß, ist leer, dann sind das klassische Bilder, die auch heute noch funktionieren und Spannung erzeugen. Das Phantom bleibt uns bis Minute 30 komplett vorenthalten und das Gesicht ohne Maske (die damals übrigens noch nicht die berühmte halbgesichtige Maske war, sondern alles oberhalb des Mundes abdeckte) sehen wir sogar erst in Minute 45.

Eine Szenen-Analyse

Die Szene, in der das Phantom demaskiert wird, möchte ich gerne in einer Einstellungs-Analyse durchgehen, da ich sie sehr schön fand. Aber Achtung: Spoiler. 😉

Das Ausgangsszenario ist folgendes: Das Phantom hat Christine in sein Versteck entführt und ihr klargemacht, dass sie auf keinen Fall seine Maske berühren darf. In der folgenden Szene realisiert Christine, dass sie in der Gewalt des Phantoms ist. Die Szene ist noch etwas länger aber ich beschränke mich auf den Abschnitt zwischen zwei Texttafeln, in dem das Phantom demaskiert wird. Vor und zu Beginn der Szene sind wir mit der Kamera die ganze Zeit bei Christine gewesen.

Rupert Julian: The Phantom of the Opera. Lizenz: gemeinfrei.

Rupert Julian: The Phantom of the Opera. Lizenz: gemeinfrei.

Shot 1: Wir sehen zunächst eine Halbtotale als Establishing-Shot, in dem das Phantom Christine droht.

Rupert Julian: The Phantom of the Opera. Lizenz: gemeinfrei.

Rupert Julian: The Phantom of the Opera. Lizenz: gemeinfrei.

Shot 2: Ein Close-Up auf Christine – Sie fasst den Plan, das Phantom zu demaskieren. Wir sind hier weiter ganz dicht bei Christine und folgen ihr und ihren Gefühlen.

Rupert Julian: The Phantom of the Opera. Lizenz: gemeinfrei.

Rupert Julian: The Phantom of the Opera. Lizenz: gemeinfrei.

Shot 3: Diese Halbtotale dient dem Zweck uns noch mehr an Christine zu binden: Wir sehen ihren ersten Versuch der Demaskierung und dann ein Zögern. Das ist ein klassisches Mittel der Zuschauer-Manipulation. Wir hatten es schon in unserer allerersten Folge zu Psycho besprochen, wo Hitch das Auto „zögern“ lässt, bevor es im Sumpf versinkt.

Rupert Julian: The Phantom of the Opera. Lizenz: gemeinfrei.

Rupert Julian: The Phantom of the Opera. Lizenz: gemeinfrei.

Shot 4: Doch im nächsten Close-Up von Christine ist sie nun fest entschlossen.

Rupert Julian: The Phantom of the Opera. Lizenz: gemeinfrei.

Rupert Julian: The Phantom of the Opera. Lizenz: gemeinfrei.

Shot 5: Christine reißt die Maske herunter – Wir sehen dies aus einer Einstellung, die wir bis dahin noch nie sahen und auch danach nie wieder zu Gesicht bekommen und die nur dem Zweck dient uns das Gesicht des Phantoms in seiner vollen Schrecklichkeit zu zeigen. Der Legende nach hat das hervorragend geklappt und das Publikum schrie in den Kinos laut auf bei diesem Bild.

Rupert Julian: The Phantom of the Opera. Lizenz: gemeinfrei.

Rupert Julian: The Phantom of the Opera. Lizenz: gemeinfrei.

In Shot 6 sehen wir den Point of View  von Christine: Das Phantom ist verschwommen, ein Stilmittel, das Rupert Julian schon zuvor eingesetzt hatte, um Christines Schrecken und Schwäche zu symbolisieren.

Rupert Julian: The Phantom of the Opera. Lizenz: gemeinfrei.

Rupert Julian: The Phantom of the Opera. Lizenz: gemeinfrei.

Shot 7 dient wieder der Orientierung: In der Totalen sehen wir Christine zurückweichen.

Rupert Julian: The Phantom of the Opera. Lizenz: gemeinfrei.

Rupert Julian: The Phantom of the Opera. Lizenz: gemeinfrei.

In den Shots 8 …

Rupert Julian: The Phantom of the Opera. Lizenz: gemeinfrei.

Rupert Julian: The Phantom of the Opera. Lizenz: gemeinfrei.

… und 9 werden die beiden Einstellungen wiederholt, um die Spannung zu steigern.

Rupert Julian: The Phantom of the Opera. Lizenz: gemeinfrei.

Rupert Julian: The Phantom of the Opera. Lizenz: gemeinfrei.

Shot 10: Jetzt kommt das wirklich spannende an der Szene – In einem Perspektivwechsel sehen wir erstmals den Point of View des Phantoms.

Rupert Julian: The Phantom of the Opera. Lizenz: gemeinfrei.

Rupert Julian: The Phantom of the Opera. Lizenz: gemeinfrei.

Shot 11: Zur Orientierung mal wieder eine Totale

Rupert Julian: The Phantom of the Opera. Lizenz: gemeinfrei.

Rupert Julian: The Phantom of the Opera. Lizenz: gemeinfrei.

Shot 12: Und noch ein letztes Aufbäumen von Christine, in der Form, dass wir noch einmal ihren Point of View sehen.

Rupert Julian: The Phantom of the Opera. Lizenz: gemeinfrei.

Rupert Julian: The Phantom of the Opera. Lizenz: gemeinfrei.

Shot 13: Doch das Phantom hat die Oberhand gewonnen, was wir an seinem nächsten Point of View sehen.

Rupert Julian: The Phantom of the Opera. Lizenz: gemeinfrei.

Rupert Julian: The Phantom of the Opera. Lizenz: gemeinfrei.

Shot 14: Noch einmal kurz eine Totale, um uns Orientierung zu geben.

Rupert Julian: The Phantom of the Opera. Lizenz: gemeinfrei.

Rupert Julian: The Phantom of the Opera. Lizenz: gemeinfrei.

Shot 15: Und dann der wichtigste Shot! Ein High-Angle-Shot zeigt uns die absolute Dominanz des Phantoms über Christine.

Rupert Julian: The Phantom of the Opera. Lizenz: gemeinfrei.

Rupert Julian: The Phantom of the Opera. Lizenz: gemeinfrei.

Shot 16: Die Szene endet, wie sie begonnen hat. In der letzten Einstellung vor der Texttafel sehen wieder eine Halbtotale. In der ersten Halbtotalen hatte das Phantom Christine gedroht, was passiert, wenn sie ihn demaskiert. In der letzten Halbtotalen sehen wir schließlich die Konsequenz: Das Phantom greift Christine an.

Nach der Szene bleibt die Kamera dann auch folgerichtig beim Phantom und zeigt uns seine Verzweiflung über die eigene Enstellung und die Demaskierung vor der geliebten Christine.

Wie hier nicht nur doof-konventionell nur mit Shot, Reverse-Shot und Totale gearbeitet wird, sondern die Kamera selbst zum Erzähler wird und uns nicht nur Infos vermittelt indem sie uns etwas zeigt, sondern auch, wie sie es uns zeigt, das ist schon ziemlich feiner filmischer Stoff.

Ein schwaches Drehbuch

Doch bevor ich diesen Film allzu hoch lobe, komme ich mal zu den Schwächen: Das Drehbuch. Mit dem zweiten Akt häufen sich in diesem die Plottlöcher und im dritten Akt fällt es dann gänzlich auseinander. Das beginnt damit, dass das Phantom in einem Anschlag den Kronleuchter auf die Zuschauer der per stürzen lässt. Soweit, so gut, aber es scheint keinerlei Ermittlungen dazu zu geben. Ich meine: Dieses Phantom hat eine eigene Loge, in der man es anscheinend während der Aufführungen auch antrifft, aber kein Polizist interessiert sich dafür.

Dann die oben erwähnte Demaskierung. Warum macht Christine das? Was erhofft sie sich davon? Sie ist offensichtlich in Gefangenschaft eines Psychopathen. Ist da wirklich das erste, was ihr einfällt, das eine Verbot zu brechen, das er ihr auferlegt hat?

Und mit Christines Dummheit geht es gleich weiter. Das Phantom lässt sie nach der oben beschriebenen Eskapade wieder gehen, damit sie weiter in der Oper auftreten kann, verbietet ihr aber ihren Lover Raoul zu treffen. Natürlich hält sich Christine nicht daran und bespricht sich mit Raoul IN DER OPER!

WTF?!?!

Wie wäre es mit dem Gare du Nord gewesen oder mit Marseille? Halt irgendwo, wo das Phantom DER OPER nicht abhängt?????

Doch jetzt wird es richtig weird. Zunächst bricht der Film mit show don’t tell, indem wir in einer späteren Szene einen Dialog zwischen Christine und Raoul sehen, bei dem Christine erzählt, dass das Phantom ihr verraten hat, dass es von ihren Fluchtplänen weiß. Doch nicht genug damit, dass wir von diesem Plotttwist aus heiterem Himmel erfahren: Obwohl Christine und Raoul nun wissen, dass ihnen das Phantom auf die Schliche gekommen ist, entschließen sie sich bei ihrem Plan zu bleiben. Warum?

Während der Oper gehen dann die Lichter aus, sofort wieder an und Christine ist von der Bühne verschwunden. Das ist ein netter Effekt, den wir schon beim Kronleuchter bewundern durften, der hier aber überhaupt keinen Sinn macht, denn wie kann das Phantom zugleich den Lichtschalter betätigen und Christine von der Bühne mopsen?

Möglicherweise hat das Phantom einen Verbündeten, denn als Raoul zusammen mit Undercover-Polizist Inspector Ledoux (der, das muss ich zugeben, sehr schön als mysteriöser Unbekannter über die ganze Spielzeit etabliert worden war, um am Ende dann eine zentrale Rolle einzunehmen) in die Katakomben hinabsteigen, treffen sie unterwegs auf einen Typen, der mit Handcolorierung hervorgehoben wird und sich „Messenger from the Shadows“ nennt, aber nichts zur Handlung beiträgt und sofort wieder abgeht. Wieso tut er das? Und welche Funktion soll er denn in diesem Film haben? Er sagt buchstäblich nur, dass er der „Messenger from the Shadows“ ist und geht ab!

Außerdem meint Ledoux zu Raoul, dass es „überlebenswichtig“ ist, dass sie bei ihrem Abstieg in die Katakomben die ganze Zeit einen Arm über dem Kopf halten. Hä? Warum? Das wird nie aufgelöst! Selbst wenn es nur ein Comic-Relief-Moment sein sollte, fehlt einfach ein Gag am Ende um dieses groteske Bild entsprechend zu erklären …

Im Showdown gibt es noch ein paar Inkonsistenzen, aber ich will kein Nitpicking betreiben, nur noch eines: Nachdem das Phantom zu Beginn des Films voll das Geheimnis war und keiner wusste, wo es steckte, gelingt es am Ende nicht bloß Raoul und Ledoux zu seinem Versteck vorzudringen, sondern dann noch Raouls Bruder und am Ende sogar einem wütenden Mob.

*Tiefer existenzieller Seufzer*

Fazit: Ein bisschen wie Zack Snyder – Schöne Bilder, aber man darf bloß nicht darüber nachdenken …

https://www.youtube.com/watch?v=gItZMA4wwcY

1924 – Sherlock Jr.

Hallo, da bin ich wieder mit meiner Reise durch die Filmgeschichte. Ich war gezwungen, die Frequenz runterzuschrauben, da derzeit Sommerferien sind und ich gleich zwei Kinder bespaßen muss. ¯\_(ツ)_/¯

Aber jetzt geht’s weiter:

Hättet ihr gedacht, dass Inception eigentlich schon 1924 gedreht worden ist? Zwar ist die Story eine andere, aber wie im Film von Christopher Nolan nutzt Buster Keaton in Sherlock, Jr. den Traum, um über das Wesen des Kinos zu philosophieren. Das Ergebnis ist so beeindruckend, dass ich es noch gar nicht fassen kann.

Um mich etwas zu beruhigen, fange ich einfach mal mit der Story an:

Keaton ist Filmvorführer, will aber Detektiv werden; er wirbt um die Hand einer jungen schönen Frau, die er mit Geschenken bezirzen will. Allerdings hat er einen Nebenbuhler, der dem Vater des Mädchens eine Uhr klaut, diese verpfändet und von dem Geld ein größeres Geschenk kauft. Als der Diebstahl herauskommt, wird Buster fälschlicherweise des Diebstahls verdächtigt. Buster will als Detektiv dem wahren Gauner das Handwerk legen, doch im echten Leben misslingt ihm dieses Unterfangen. Auf der Arbeit hingegen schläft er ein, steigt im Traum in den Film, den er gerade vorführt und löst dort als Sherlock Jr. einen ganz ähnlich gelagerten Fall. Als er erwacht, hat seine Angebetete den Fall ihrerseits gelöst und das richtige Paar findet zusammen.

Ein Essay darüber wie Kino funktioniert

Obwohl die Story des Films, der einer der letzten von Metro Pictures war, bevor die Firma zu Metro-Goldwyn-Mayer (MGM) fusionierte, auf der erzählerischen Ebene recht dünn ist, ist er wiederum unglaublich dicht darin, wie er uns die Geschichte erzählt. Es ist ein Essay darüber wie Kino funktioniert, das in dem Moment, in dem Keaton durch die Leinwand steigt absolut „mindblowing“ ist.

Aber auch schon im noch recht konventionellen Beginn, bereitet dieser Metafilm sein Thema vor, indem er Erwartungshaltungen thematisiert und diese dann bricht. Beispielsweise erfährt Keaton aus seinem Lehrbuch für Detektive, dass er seinen Tatverdächtigen „beschatten“ muss. Daraufhin folgt er ihm so dicht auf den Fersen, als wäre er sein Schatten. Bei dieser Beschattung spielt er dann einmal mit der Zweidimensionalität des Bildes, indem er den Villain eine Treppe hochgehen lässt, während Keaton selbst dahinter vorbeigeht, was erst in dem Moment zu sehen ist, wo er hinter das Geländer tritt.

Die Traumsequenz

Dieses Spiel mit Erwartungshaltungen setzt sich dann in der Traumsequenz fort. Die Sequenz beginnt zunächst mit einer noch recht banalen Doppelbelichtung, wenn Keaton seinem eigenen schlafenden Körper entsteigt und aus der Projektionskabine in den Kinosaal geht. Es folgt der Moment, in dem der Film auf der Leinwand die Keatons Erlebnisse außerhalb der Leinwand zu spiegeln beginnt, wodurch wir gewissermaßen aufgefordert werden, die Parallelen zwischen Traum und Film zu erkennen. Am Ende, nach dem Erwachen, wird das Verhältnis übrigens umgedreht. Als Keaton in einer Szene nicht so recht weiß, wie er sich romantisch zu verhalten hat, erhält er dann Handlungsanweisungen von der Filmleinwand. Zunächst springt Keaton aber erst einmal durch die Leinwand in den Film, dann wird er wieder rausgeworfen und muss noch einmal hineinspringen.

Jetzt folgt die berühmteste Szene des Films. Erinnert ihr euch noch an die Szene aus Inception, als Cobb und Ariadne im Café sitzen und Cobb Ariadne darauf hinweist, dass sie nicht weiß, wie sie dorthin gekommen ist? Mit dieser Szene verdeutlicht uns Nolan, dass der Schnitt im Film genau die gleiche Funktion hat. Und ebenjenes macht nun Keaton nur noch cinematischer, indem er dafür komplett auf Sprache verzichtet:

Wir sehen eine schnelle Abfolge von Schnitten mit wechselnden Szenerien und Keaton versucht sich immer auf das jeweils neue Setting einzustellen, woraufhin es sich schon wieder verändert hat. Die Matchcuts sind mit einer erstaunlichen Präzession durchgeführt. Der Kameramann hatte ein Negativ des letzten Frames vor dem Schnitt im Sucher, sodass er Keaton so dirigieren konnte, dass kein Anschlussfehler entsteht. Das Ergebnis ist ein Anti-Méliès-Stil. Wo bei Méliès das Setting gleich blieb, während er durch Schnitte Dinge durch dieses tanzen ließ, da verändert sich hier mit den Schnitten das Setting unentwegt, während Keaton derjenige ist, der gleich bleibt.

Im weiteren Verlauf des Films im Film greift Keaton dann wieder das Spiel mit Erwartungshaltungen auf, etwa, wenn er eine Safe-Tür öffnet, dahinter sich aber keine Schätze verbregen, sondern eine Straße, auf die er dann hinaustritt. Oder wenn bei einem Billiardspiel in der 13er-Kugel eine Bombe ist, die bei Aufprall detoniert. Und Keaton ein komplettes Spiel mit teilweise abenteuerlichen Stößen absolviert, ohne die Kugel zu berühren, nur um dann am Ende (Achtung: Spoiler) sie einzulochen, ohne dass sie explodiert. Die Kugel ist zugleich eine Chekov’s Gun, denn Keaton hat sie ausgetauscht und die Bombe eingesteckt. Im Showdown nutzt er sie dann, um seine Verfolger loszuwerden.

Der erste Action-Star

Womit ich beim nächsten Punkt wäre: Denn Buster Keaton, auch wenn er einer der berühmtesten Comedy-Schauspieler aller Zeiten war, war eigentlich der erste Action-Star. Die Stunts, die er ohne Double oder gar Tricktechnik vollführt, sind atemberaubend: So schwingt er sich an einer Schrankenstange von einem Hausdach oder fährt auf einem Motorradlenker sitzend durch die Gegend, wobei er unter anderem diesen wahnwitzigen Shot generiert, bei dem alle drei Fahrzeuge in Bewegung sind:

Buter Keaton: Sherlock Jr. Lizenz: gemeinfrei.

Buter Keaton: Sherlock Jr. Lizenz: gemeinfrei.

Bei einem Stunt, in dem er mit Wasser überspült wurde, brach er sich sogar das Genick an, da die Wucht des Wassers stärker war, als er annahm.

Sagte ich, dass er komplett auf Tricktechnik verzichtet? Da bin ich mir nicht so sicher: In einer Szene springt er durch ein Fenster in ein Frauenkleid, das er dort zuvor drapiert hatte, um sich so zu tarnen, in einer anderen Szene springt er in einen Aktenkoffer hinein und verschwindet dort drinnen. Beides sind dann wohl doch eher Trickschnitte à la Méliès.

Framing geht über Bewegung

Kommen wir zur Kameraarbeit: Keatons Kamera geht sehr sparsam mit Bewegungen um. Dies macht er aber nicht, weil er es nicht kann, wie verschiedene Tracking-Shots, allen voran die besagte Motorradfahrt zeigen. Nein, die vergleichsweise Statik der Kamera ist Methode und wird ausgeglichen durch ein fantastisches Framing. Keaton wählt seine Kameraeinstellungen immer so, dass alles im Bild ist, was von Bedeutung sein wird. Wenn er die Wahl hat zwischen Kamerabewegung, Schnitt oder Kameraposition, dann wählt er immer die dritte Option.

Buter Keaton: Sherlock Jr. Lizenz: gemeinfrei.

Buter Keaton: Sherlock Jr. Lizenz: gemeinfrei.

An diesem Shot lässt sich das sehr gut erkennen. Das Prinzip sahen wir schon bei Chaplins The Kid: Die Hausecke fungiert hier als natürlicher Splitscreen, durch den wir zwei Szenen auf einmal erzählt bekommen. Rechts die Gangster, die ins Haus stürmen, links Keaton und seine Love Interest , die zeitgleich aus dem Fenster klettern und durch die Wahl der Einstellung braucht Keaton weder Schnitt noch Kamerabewegung.

Ein Haar finde ich aber doch noch in der Suppe: Auch in Sherlock, Jr. finden wir wieder den sexistischen Trope aus Coney Island, dass die Frau nur am Geld interessiert ist. Während wir Buster als großherzigen Menschen etabliert bekommen, der sein letztes Geld sogar noch verschenkt, ist seine Geliebte enttäuscht über den zu kleinen Ring, ein Klischee, das uns im Kino noch heute verkauft wird, und nimmt bei der ersten sich bietenden Gelegenheit den Typen mit dem größeren … Geschenk.

https://www.youtube.com/watch?v=WlJmtedcnp4