Hallo, da bin ich wieder mit meiner Reise durch die Filmgeschichte. Ich war gezwungen, die Frequenz runterzuschrauben, da derzeit Sommerferien sind und ich gleich zwei Kinder bespaßen muss. ¯\_(ツ)_/¯
Aber jetzt geht’s weiter:
Hättet ihr gedacht, dass Inception eigentlich schon 1924 gedreht worden ist? Zwar ist die Story eine andere, aber wie im Film von Christopher Nolan nutzt Buster Keaton in Sherlock, Jr. den Traum, um über das Wesen des Kinos zu philosophieren. Das Ergebnis ist so beeindruckend, dass ich es noch gar nicht fassen kann.
Um mich etwas zu beruhigen, fange ich einfach mal mit der Story an:
Keaton ist Filmvorführer, will aber Detektiv werden; er wirbt um die Hand einer jungen schönen Frau, die er mit Geschenken bezirzen will. Allerdings hat er einen Nebenbuhler, der dem Vater des Mädchens eine Uhr klaut, diese verpfändet und von dem Geld ein größeres Geschenk kauft. Als der Diebstahl herauskommt, wird Buster fälschlicherweise des Diebstahls verdächtigt. Buster will als Detektiv dem wahren Gauner das Handwerk legen, doch im echten Leben misslingt ihm dieses Unterfangen. Auf der Arbeit hingegen schläft er ein, steigt im Traum in den Film, den er gerade vorführt und löst dort als Sherlock Jr. einen ganz ähnlich gelagerten Fall. Als er erwacht, hat seine Angebetete den Fall ihrerseits gelöst und das richtige Paar findet zusammen.
Ein Essay darüber wie Kino funktioniert
Obwohl die Story des Films, der einer der letzten von Metro Pictures war, bevor die Firma zu Metro-Goldwyn-Mayer (MGM) fusionierte, auf der erzählerischen Ebene recht dünn ist, ist er wiederum unglaublich dicht darin, wie er uns die Geschichte erzählt. Es ist ein Essay darüber wie Kino funktioniert, das in dem Moment, in dem Keaton durch die Leinwand steigt absolut „mindblowing“ ist.
Aber auch schon im noch recht konventionellen Beginn, bereitet dieser Metafilm sein Thema vor, indem er Erwartungshaltungen thematisiert und diese dann bricht. Beispielsweise erfährt Keaton aus seinem Lehrbuch für Detektive, dass er seinen Tatverdächtigen „beschatten“ muss. Daraufhin folgt er ihm so dicht auf den Fersen, als wäre er sein Schatten. Bei dieser Beschattung spielt er dann einmal mit der Zweidimensionalität des Bildes, indem er den Villain eine Treppe hochgehen lässt, während Keaton selbst dahinter vorbeigeht, was erst in dem Moment zu sehen ist, wo er hinter das Geländer tritt.
Die Traumsequenz
Dieses Spiel mit Erwartungshaltungen setzt sich dann in der Traumsequenz fort. Die Sequenz beginnt zunächst mit einer noch recht banalen Doppelbelichtung, wenn Keaton seinem eigenen schlafenden Körper entsteigt und aus der Projektionskabine in den Kinosaal geht. Es folgt der Moment, in dem der Film auf der Leinwand die Keatons Erlebnisse außerhalb der Leinwand zu spiegeln beginnt, wodurch wir gewissermaßen aufgefordert werden, die Parallelen zwischen Traum und Film zu erkennen. Am Ende, nach dem Erwachen, wird das Verhältnis übrigens umgedreht. Als Keaton in einer Szene nicht so recht weiß, wie er sich romantisch zu verhalten hat, erhält er dann Handlungsanweisungen von der Filmleinwand. Zunächst springt Keaton aber erst einmal durch die Leinwand in den Film, dann wird er wieder rausgeworfen und muss noch einmal hineinspringen.
Jetzt folgt die berühmteste Szene des Films. Erinnert ihr euch noch an die Szene aus Inception, als Cobb und Ariadne im Café sitzen und Cobb Ariadne darauf hinweist, dass sie nicht weiß, wie sie dorthin gekommen ist? Mit dieser Szene verdeutlicht uns Nolan, dass der Schnitt im Film genau die gleiche Funktion hat. Und ebenjenes macht nun Keaton nur noch cinematischer, indem er dafür komplett auf Sprache verzichtet:
Wir sehen eine schnelle Abfolge von Schnitten mit wechselnden Szenerien und Keaton versucht sich immer auf das jeweils neue Setting einzustellen, woraufhin es sich schon wieder verändert hat. Die Matchcuts sind mit einer erstaunlichen Präzession durchgeführt. Der Kameramann hatte ein Negativ des letzten Frames vor dem Schnitt im Sucher, sodass er Keaton so dirigieren konnte, dass kein Anschlussfehler entsteht. Das Ergebnis ist ein Anti-Méliès-Stil. Wo bei Méliès das Setting gleich blieb, während er durch Schnitte Dinge durch dieses tanzen ließ, da verändert sich hier mit den Schnitten das Setting unentwegt, während Keaton derjenige ist, der gleich bleibt.
Im weiteren Verlauf des Films im Film greift Keaton dann wieder das Spiel mit Erwartungshaltungen auf, etwa, wenn er eine Safe-Tür öffnet, dahinter sich aber keine Schätze verbregen, sondern eine Straße, auf die er dann hinaustritt. Oder wenn bei einem Billiardspiel in der 13er-Kugel eine Bombe ist, die bei Aufprall detoniert. Und Keaton ein komplettes Spiel mit teilweise abenteuerlichen Stößen absolviert, ohne die Kugel zu berühren, nur um dann am Ende (Achtung: Spoiler) sie einzulochen, ohne dass sie explodiert. Die Kugel ist zugleich eine Chekov’s Gun, denn Keaton hat sie ausgetauscht und die Bombe eingesteckt. Im Showdown nutzt er sie dann, um seine Verfolger loszuwerden.
Der erste Action-Star
Womit ich beim nächsten Punkt wäre: Denn Buster Keaton, auch wenn er einer der berühmtesten Comedy-Schauspieler aller Zeiten war, war eigentlich der erste Action-Star. Die Stunts, die er ohne Double oder gar Tricktechnik vollführt, sind atemberaubend: So schwingt er sich an einer Schrankenstange von einem Hausdach oder fährt auf einem Motorradlenker sitzend durch die Gegend, wobei er unter anderem diesen wahnwitzigen Shot generiert, bei dem alle drei Fahrzeuge in Bewegung sind:
Bei einem Stunt, in dem er mit Wasser überspült wurde, brach er sich sogar das Genick an, da die Wucht des Wassers stärker war, als er annahm.
Sagte ich, dass er komplett auf Tricktechnik verzichtet? Da bin ich mir nicht so sicher: In einer Szene springt er durch ein Fenster in ein Frauenkleid, das er dort zuvor drapiert hatte, um sich so zu tarnen, in einer anderen Szene springt er in einen Aktenkoffer hinein und verschwindet dort drinnen. Beides sind dann wohl doch eher Trickschnitte à la Méliès.
Framing geht über Bewegung
Kommen wir zur Kameraarbeit: Keatons Kamera geht sehr sparsam mit Bewegungen um. Dies macht er aber nicht, weil er es nicht kann, wie verschiedene Tracking-Shots, allen voran die besagte Motorradfahrt zeigen. Nein, die vergleichsweise Statik der Kamera ist Methode und wird ausgeglichen durch ein fantastisches Framing. Keaton wählt seine Kameraeinstellungen immer so, dass alles im Bild ist, was von Bedeutung sein wird. Wenn er die Wahl hat zwischen Kamerabewegung, Schnitt oder Kameraposition, dann wählt er immer die dritte Option.
An diesem Shot lässt sich das sehr gut erkennen. Das Prinzip sahen wir schon bei Chaplins The Kid: Die Hausecke fungiert hier als natürlicher Splitscreen, durch den wir zwei Szenen auf einmal erzählt bekommen. Rechts die Gangster, die ins Haus stürmen, links Keaton und seine Love Interest , die zeitgleich aus dem Fenster klettern und durch die Wahl der Einstellung braucht Keaton weder Schnitt noch Kamerabewegung.
Ein Haar finde ich aber doch noch in der Suppe: Auch in Sherlock, Jr. finden wir wieder den sexistischen Trope aus Coney Island, dass die Frau nur am Geld interessiert ist. Während wir Buster als großherzigen Menschen etabliert bekommen, der sein letztes Geld sogar noch verschenkt, ist seine Geliebte enttäuscht über den zu kleinen Ring, ein Klischee, das uns im Kino noch heute verkauft wird, und nimmt bei der ersten sich bietenden Gelegenheit den Typen mit dem größeren … Geschenk.
https://www.youtube.com/watch?v=WlJmtedcnp4