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1921 – The Kid

Derweil in Hollywood: The Kid war Chaplins erster Langfilm. Wie schon bei A Dog’s Live hatte er die volle Kontrolle über den Film, er war Produzent, Regisseur und Drehbuchautor, der Film entstand in seinen eigenen Studios, auch wenn er noch einmal von First National vertrieben wurde, da Chaplins eigener Filmverleih United Artists erst während der Dreharbeiten gegründet wurde.

Die Gründung von UA war nur eine der vielen Umwälzungen in Chaplins Leben, die die Produktion von The Kid, die bereits 1919 gestartet worden war, verlängerte. So ließ er sich auch von seiner ersten Frau Mildred Harris scheiden. Diese Scheidung entwickelte sich zu einem Rosenkrieg, im Laufe dessen Harris’ Anwälte drohten, The Kid zu pfänden, weshalb Chaplin die Negative in einem Hotel in Salt Lake City verstecken ließ, in dem er auch die erste Schnittfassung anfertigte.

Doch der eigentliche Grund, warum The Kid so lange zur Vertigstellung brauchte, war Chaplins Perfektionismus. Eben weil der die volle Kontrolle über das Projekt hatte, ließ er unzählige Aufnahmen machen. Am Ende waren es sage und schreibe 53 Mal so viele, wie später auf der Leinwand zu sehen waren. Und das obwohl The Kid ursprünglich als Kurzfilm geplant gewesen war. Chaplin überredete letztlich die Geldgeber von First National aus dem Two-Reeler einen Six-Reeler zu machen …

Und auch später endete Chaplins Obsession mit diesem Werk noch nicht. So veröffentlichte er 1971 noch einmal einen Director’s Cut, für den er komplett neue Musik komponierte und drei Szenen herausschnitt, die die Rolle der Mutter und die Gründe dafür, ihr Kind wegzugeben, Chaplins Meinung nach zu explizit darstellten.

Diese Version gibt es auf YouTube und sie hat eine erstaunlich gute Bildqualität, die es uns erlaubt, zu sehen, mit welcher Liebe zum Detail die Kulissen erstellt wurden. Eine Teekanne mit einem Baby-Sauger ist so ein liebevolles Detail. Ja, der Film hat teilweise wunderschön inszenierte Shots. So derjenige, in dem die Kamera direkt auf die Hausecke gerichtet ist und wir links von der Ecke den Tramp mit der Frau des Polizisten flirten sehen, während wir rechts den zornigen Polizisten erblicken.

Screenshot aus The Kid. Lizenz: gemeinfrei.

Screenshot aus The Kid. Lizenz: gemeinfrei.

Noch beeindruckender ist die Verfolgungsjagd über die Dächer. Ich weiß es nicht mit Sicherheit, kann mir aber gut vorstellen, dass Chaplin diesen beliebten Trope, den wir etwa in Vertigo oder in Matrix wiedersehen, erfunden hat. Während der Jagd sehen wir auf alle Fälle in einer geschickt gewählten Einstellung sowohl den Tramp auf den Dächern vor dem Polizisten davonlaufen, als auch unten auf den Straßen das Auto des Kinderheims fahren, das Chaplin zugleich versucht, einzuholen. So etwas einzufangen wäre selbst heute noch ein außergewöhnlicher Shot.

Screenshot aus The Kid. Lizenz: gemeinfrei.

Screenshot aus The Kid. Lizenz: gemeinfrei.

Wunderschön ist außerdem, wie Chaplin Details, die prominent in die Mise en Scène eingeführt werden, später noch Bedeutung tragen lässt. So in dem perfekt komponierten Shot, in dem Chaplin das Kind hält während er vor einem Mauerdurchgang steht. Das Detail, das mir beim Schauen sofort ins Auge sprang, war der Gulli neben Chaplins Spazierstock. Und der Tramp überlegt auch folgerichtig, ob der sich des Kindes entledigen soll, indem er es einfach in den Gulli wirft.

Screenshot aus The Kid. Lizenz: gemeinfrei.

Screenshot aus The Kid. Lizenz: gemeinfrei.

Ich glaube auch, dass The Kid den Trope des alleinerziehenden Vaters etabliert hat. Ich habe da eine Theorie, dass alleinerziehende Väter im Kino überrepräsentiert sind. Im normalen Leben sind es ja in den allermeisten Fällen Frauen, die mit den Kindern sitzengelassen werden, aber im Kino wird uns gern die Geschichte erzählt vom Vater, der allein das Kind aufzieht.

Das nächste Element des filmischen Erzählens, das Chaplin sehr schön einsetzt, ist der Match-Cut. Einmal taucht er beim Einschlafen in einer cheesy Traumsequenz auf, an deren Ende der Tramp erneut nach einem Matchcut wieder allein auf der Straße sitzt. Aber besonders gefallen hat mir, als der Besitzer des Nachtasyls die Zeitung liest und passend auf die bekannte Zeitungs-Texttafel geschnitten wird.

Die echt schlechte Traumsequenz zeigt hingegen, dass nicht alles eitel Sonnenschein ist an The Kid. Der Film hat viele Probleme. Das fängt ganz einfach mit dem Bruch von Show don’t tell an, wenn wir über eine Texttafel erfahren, dass die Mutter des Kindes jetzt reich und berühmt ist und hört mit der Holzhammermetapher, als Chaplin einen assoziativen Schnitt von der Mutter mit Säugling zu Jesus mit Kreuz einfügt.

Auch das offene Ende ist merkwürdig, denn nichts ist gelöst. Es ist zwar irgendwie schön, dass Mutter und Sohn sich wiedergefunden haben, aber danach setzte bei mir sofort das Nachdenken ein: Moment, bleibt das Kind jetzt bei der Mutter, die es doch gar nicht kennt? Und was wird aus dem Tramp? Außer Wärme ums Herz hat das Ende nicht viel zu bieten. Und das führt mich auch zum letzten und größten Problem:

The Kid drückt als eine der ersten Tragikomödien in den tragischen Elementen schon gewaltig auf die Tränendrüse. Der gesamte Armutsaspekt, der in A Dog’s Life noch äußerst sozialkritisch auf mich wirkte, verkommt hier zur Kulisse, die uns das Wasser in die Augen treiben soll.

Allerdings gibt es dann auch wieder simple Momente von großer Poesie. Allen voran der Shot, wenn Mutter und Sohn sich das erste Mal wiedersehen, ohne zu wissen, wer der oder die jeweils andere ist und einen Moment teilen, in dem sie auf einer Treppe sitzen und mit Spielberg-Face ins Off blicken. Schön!

Screenshot aus The Kid. Lizenz: gemeinfrei.

Screenshot aus The Kid. Lizenz: gemeinfrei.

Hier gibt es den Film auf Youtube:

https://www.youtube.com/watch?v=2BagaJFimzk

1911 – L’Inferno

Die Adaption von Dantes Göttlicher Komödie, verfilmt von Francesco Bertolini, Adolfo Padovan, and Giuseppe De Liguoro ist eine dreifache Premiere in meinem Trip durch die Filmgeschichte:

1. Der erste italienische Film, den ich hier bespreche
2. der erste Feature-Film
3. die erste Nackt-Szenen

Der Film ist 68 Minuten lang und der älteste Feature-Film, der bis heute überlebt hat. Der erste abendfüllende Spielfilm überhaupt war wohl The Story of the Kelly Gang von 1906, der aber nicht mehr komplett erhalten ist. Der wohl einzige australische Beitrag zu Filmgeschichte außer Mad Max.

L’Inferno war mit einem Budget von mehr als 100.000 Lire teuer, er brauchte drei Jahre, um produziert zu werden, aber er war auch ein weltweiter Erfolg und spielte etliche Millionen ein. Angeblich ist er bis heute die beste Verfilmung von Dantes Buch, was aber wohl eher etwas über die anderen Filme aussagt.

Die Story ist schnell erzählt: Dante steigt in die Hölle hinab und schaut sich eine Grausamkeit nach der anderen an. Begleitet wird er dabei von Virgil, der ihn zugleich beschützt. In der Hölle gibt es anscheinend fast nur Männer, die dann alle nackt sind, bis auf kleine Beutel, in denen ihre Pimmel stecken.

Es gibt ein paar bemerkenswerte Details an diesem Film, die durchaus erwähnswert sind. Kurioses, wie eine der ersten Texttafeln, die nicht nur erzählt, welchen Tieren Dante begegnet, sondern auch, was sie symbolisieren. Wer hat schon Lust, sich selbst Gedanken zu mache? Nicht weniger kurios ist, dass Beatrice einen Ventilator als Heiligenschein hat!

Aber der Film bietet auch einiges an Innovation. Während Doppelbelichtung zum Verschwinden lassen oder um verschiedengroße Wesen zu zeigen, Verwandlungen durch Trickschnitte oder das Fliegen mit Drähten schon alte Hüte sind, beeindruckte mich, den ersten Kameraschwenk auf dieser Reise durch die Filmgeschichte zu sehen und auch der Aufbruch der traditionellen Storyline in Form einer Rückblende ist durchaus erwähnenswert.

Was ist mein Fazit? Der Film ist schon noch einmal etwas ganz anderes als die etlichen Kurzfilme, die ich bis hierher gesehen habe. Er ist vor allem supergruselig. Er zeigt eine Stunde lang verstörende Bilder. Er hat sich, den Satz „Lasst, die ihr eintretet, alle Hoffnung fahren!“ aus der Göttlichen Komödie sehr zu Herzen genommen. Allerdings hätte ihm eine Handlung gut getan. So konnte er mich nur 20 Minuten lang mehr oder weniger fesseln, dann begann mich der immer geiche Ablauf – Dante betritt ein neues Szenario und beobachtet, wie die Sünder dort gequält werden – zu langweilen. Der Film erscheint mir als ein einziger langer Fanservice für die Leser des Buches. Sie bekommen die Bilder zu dem Werk gezeigt. Wenn man bedenkt, dass die Göttliche Komödie für die Italiener das ist, was für die Deutschen der Faust, dann macht das durchaus Sinn. Aber mich konnte das, wie gesagt, nicht nachhaltig beeindrucken.