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SF71 – Reservoir Dogs (feat. Mathias)

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Paula
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Daniel
Mr. Pink
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Mathias
Mr. Blonde


I don’t tip because society says I have to

Mit den Gehirnen von 35 Jährigen in den Körpern von 90 Jährigen luden wir unseren Berlin-Korrespondenten Mathias und die üblichen technischen Probleme ein, um endlich die Frage zu klären: Who shot Nice Guy Eddie? Nebenbei klärten wir übrigens auch, ob Mr. Pink starb. Reservoir Dogs bildet also den Auftakt unserer nun nicht mehr ganz so geheimen Regisseur-Reihe. Fuck! Tarantino hat uns voll erwischt. Loyal, vulgär, gewalttätig und vor allem hypermännlich kamen wir als Boten mit Berichten zu dieser Geburt. Mathias, hörst du uns?!

Vorgeplänkel

Daniel schaltet den Herd unerfolgreich aus … ♦ Was wurde eigentlich aus Kermit? ♦ 6 von 36 Fragen, durch die man sich verliebt … ♦ Die Retter von New York ♦ Daniel war im Enough Talk! und sprach noch einmal über künstliche Intelligenz ♦ Außerdem sprach Daniel über Harry Potter in der Second Unit

Die Eckdaten von Reservoir Dogs

Erscheinungsjahr: 1992
Regie: Quentin Tarantino
– Filmographie als Drehbuchautor:
1993 True Romance
1994 Natural Born Killers (Story)
1995 Dance Me To The End Of Love (Kurzfilm)
1996 From Dusk Till Dawn
1996 Curdled
Schnitt: Sally Menke (1953-2010).
Budget: 1,5 Mio
Besetzung: Harvey Keitel (Mr. White,) Tim Roth (Mr. Orange), Michael Madsen (Mr. Blonde), Steve Buscemi (Mr. Pink), Quentin Tarantino (Mr. Brown), Chris Penn (Nice Guy Eddie), Eddie Bunker (Mr. Blue)
Genre: Gangsterfilm, Kammerspiel, Heist-Movie, Neo-Noir, Thriller, postmoderner Film, Tragödie

Eddie Bunker, der Mr. Blue spielt, war übrigens ein Ex-Bank-Räuber im wahren Leben. Er war der jüngste Gefangene, der jemals in St. Quentin einsaß. Nach seiner Haftstrafe schrieb er Bücher und wurde Schauspieler.

Die Produktion von Reservoir Dogs

Die Idee zu Reservoir Dogs

Tarantino kam auf die Idee zu Reservoir Dogs, als er noch in der Videothek Video Archives arbeitete. In dieser Videothek gab es ein Themen-Regal, das sie jede Woche mit anderen Filmen bestückten. In einer Woche war das Thema „Heist-Movies“. Tarantino nahm sich jeden Abend einen mit nach Hause, schaute alle Klassiker des Genres und dachte sich:

„I put my head round what a neat genre that would be to redo.“

Der Legende nach fand er in den Video Archives auch den Titel „Reservoir Dogs“ als er einem Kunden den Film Au revoir, les enfants empfahl, der aber die Empfehlung abtat mit:

„I don’t want no reservoir dogs!“.

Diese Geschichte ist so schön, dass wir sie euch nicht vorenthalten wollten, aber höchst wahrscheinlich nicht wahr. Kritiker sagen, dass zum Zeitpunkt, als Reservoir Dogs entstand, Au revoir, les enfants noch keinen Video-Release in den USA hatte.

Während der Produktion erzählte Tarantino immer die Geschichte, dass “Reservoir Dog” im französischen Gangsterfilm „Verräter“ bedeute. Das ist aber definitiv nicht wahr und Tarantino hatte es sich nur ausgedacht, um die Geldgeber ruhigzustellen, da er wusste, dass sie das französische Kino sowieso nicht gut genug kannten.

Das Drehbuch von Reservoir Dogs

Tarantino hatte bereits einige Drehbücher geschrieben, die aber allesamt von den Studios, an die seine damalige Managerin Cathryn Jaymes sie schickte, abgelehnt wurden. Die Begündung war stets: Zu unmoralisch, zu vulgär, zu Brutal. Ein Manager störte sich so sehr an den vielen „Fucks“ im Skript von True Romance, dass er Cathryn Jaymes folgendes Antwortschreiben schickte:

„Dear Fucking Cathryn,

How dare you send me this fucking piece of shit. You must be out of your fucking mind. You want to know how I feel about it? Here’s your fucking piece of shit back. Fuck you.“

Dann traf Tarantino seinen zukünftigen Produzenten Lawrence Bender. Bender hatte damals auch erst einen Film gemacht. Er war begeistert vom Drehbuch von Reservoir Dogs. Bender versprach Tarantino, das Geld für den Film zu besorgen und der Regisseur gab ihm zwei Monate Zeit. Den Vertrag unterschrieben sie auf einer Papierserviette.

Benders größtes Problem bei der Finanzierung war, das Tarantino darauf bestand, selbst Regie zu führen. Zwar gab es einige Interessenten, die merkten, wie brillant das Drehbuch ist, aber niemand war bereit, das Risiko einzugehen, einen unbekannten Videothekar auf den Regiestuhl zu setzen. Benders erster Erfolg war dann, das Drehbuch zu True Romance an Tony Scott für 30.000 $ zu verkaufen. Scott wollte eigentlich lieber Reservoir Dogs haben, aber Tarantino rückte sein liebstes Projekt nicht raus.

Tarantinos und Benders Plan war dann, Reservoir Dogs zusammen mit ihrem Freundeskreis mit dem Geld für True Romance zu drehen. Da sie das nicht weit bringen würde, war der Plan Reservoir Dogs als 16mm schwarz-weiß Kurzfilm zu drehen, in dessen Mittelpunkt die Szene steht, in der Mr. Pink, den Tarantino spielen wollte, von einem Polizisten (gespielt von Lawrence Bender) gejagt wird.

Allerdings nahm Bender damals auch selbst Schauspielunterricht. Und als er seinem Schauspiellehrer von dem Script erzählte, sagte der, dass seine Frau Harvey Keitel kenne und so landete das Drehbuch schließlich in Keytels Schoß. Keitel willigte ein, sich mit Tarantino zu treffen. Bei diesem Treffen kam es der Legende nach zu einem berühmt gewordenen Dialog:

Keitel fragte: ‘How’d you come to write this script? Did you live in a tough-guy neighborhood growing up?’
Tarantino sagte nein.
Keytel: ‘Was anybody in your family connected with tough guys?’
Tarantino sagte nein
Keitel: ‘Well, how the hell did you come to write this?’
Tarantino: ‘I watch movies.’

Harvey Keitel stieg in das Projekt als Hauptdarsteller und Co-Produzent ein. Mit seiner Unterstützung gelang es, das Budget, auf 1,5 Millionen zu erhöhen. Keitel finanzierte auch die Casting-Session in New York, bei der das Team Steve Buscemi, Michael Madsen, und Tim Roth fand. Keitels wichtigste Rolle war allerdings, dass er Tarantino als Regisseur den Rücken stärkte. Man kann mit Fug und Recht sagen, dass die Welt Harvey Keitel verdankt, dass sie Tarantino als Regisseur bekam.

Das knappe Budget

Das Budget von 1,5 Millionen war noch immer so niedrig, dass das Team an allen Ecken und Enden sparen musste. Mehrere Schauspieler trugen ihre eigenen Klamotten, zum Beispiel gehörte die hübsche Trainingsjacke wirklich Chris Penn. Steve Buscemi trug statt einer Anzughose, schwarze Jeans, die ihm gehörten. Michael Madsen fuhr wegen des knappen Budgets sein eigenes AutoRobert Kurtzman willigte ein, das Special Make-up umsonst zu machen, wenn Tarantino im Gegenzug umsonst eine Geschichte von Kurtzman in ein Drehbuch umarbeite. Die Geschichte war: From Dusk Till Dawn.

Eine Parallele zu Diary of a Teenage Girl (SF69): die Crew hatte kein Geld, um bei den Szenen auf der Straße diese sperren zu lassen. Besonders problematisch gestaltete sich daher die Szene, in der Mr. Pink das Auto klaut. Die Crew musste bei den einzelnen Takes immer den richtigen Moment abwarten, an dem die Ampel auf Grün umspringt, damit Buscemi losfahren kann.

In einem Interview sagte Tarantino später, dass er überproportional viel für die Rechte des Songs „Stuck in the middle with you“ ausgeben musste. Das Lied, das er in der Folterszene verwendet. Und zwar hatte er schon im Drehbuch stehen, dass er den Song in dieser Szene verwenden will. Dadurch wusste die Plattenfirma, dass sie viel dafür verlangen konnte. Tarantino sagte, dass er daraus gelernt hat und nie wieder die geplante Verwendung eines Songs ins Drehbuch geschrieben hat.

Der Dreh von Reservoir Dogs

Ebenfalls wie Marielle Heller vor Diary of a Teenage Girl (SF69) wurde auch Tarantino zum Sundance Institute eingeladen. Allerdings besuchte er den Regie-Workshop. Dort inszenierte er mit Schauspielern unter Anleitung eine Szene von Reservoir Dogs. Einer seiner Lehrer war übrigens Terry Gilliam, dem Tarantino dann im Abspann von Dogs auch dankt.

Die eigentlichen Dreharbeiten fanden im Juli und August statt. Und es war so heiß, dass Tim Roth mehrere Male durch das getrocknete Kunstblut buchstäblich am Boden festklebte und in den Drehpausen abgekratzt werden musste, was mehrere Minuten dauerte.

Michael Madsen hatte große Probleme, die Folterszene zu drehen. Als Kirk Baltz (der den Polizisten spielt) improvisierte und flüstert: „I’ve got a little kid at home.“ musste Madsen die Szene weinend abbrechen, da er gerade selbst Vater geworden war.

Weniger Probleme hatte Madsen damit, Baltz in den Kofferaum seines Autos zu sperren. Kirk Baltz bat Madsen bei einer Probe darum, einmal um den Block zu fahren. Da er noch nie in einem Kofferraum eingesperrt gewesen war, wollte er die Erfahrung machen, um seine Rolle glaubwürdiger spielen zu können. Als Madsen im Auto saß, beschloss er, dass dies eigentlich auch eine gute Gelegenheit sei, sich mit seinem eigenen Filmcharakter vertraut zu machen. Daher fuhr er nicht nur um den Block, sondern erst einmal durch den Drive-In eines Taco Bells und dann erst zurück zum Set. Dass er dort mit einem Becher Cola auftauchte, gefiel Tarantino so gut, dass sie dies für den Dreh übernahmen.

Das Rätsel des Showdowns

Im Showdown, wenn Mr. White, Joe und Nice Guy Eddie sich im Mexican Standoff gegenüberstehen, gibt es das große Rätsel, das zu vielen Fantheorien geführt hat: Wer erschoss Nice Guy Eddie? Mr. White erschießt Joe und wird dann von Eddie erschossen. Aber Eddie fällt einfach um, ohne dass eine Waffe auf ihn gerichtet ist. Es gibt sogar T-Shirts mit der Frage: „Who shot Nice Guy Eddie?“.

Die Auflösung ist eine Panne: Die Schauspieler trugen Kunstblutbeutel unter der Kleidung mit Mikrozündern. Aber der Beutel von Keitel explodierte zu früh, sodass er zu Boden ging, bevor er auf Penn schießen konnte. Dann explodierte Penns Blutbeutel und er ließ sich fallen. Tarantino beschloss gemäß dem von uns schon oft zitierten Hollywood-Credo „Wirkung geht über Realismus“ diesen Take zu nehmen.

Filmisches Erzählen in Reservoir Dogs

Die erste Szene

„This scene works not because it’s 5 dudes sitting around, it works because it’s entertaining. They’re not talking about themselves or talking about their job, because we have NO idea why they’re even together. We just know that they’re shooting the shit in a very casual, entertaining way. It tells us a lot about the characters, without knowing them.“

Taste of Cinema

Die erste Szene im ersten Film von Tarantino ist bereits ganz großartig und zeigt vieles von dem, was den Regisseur in seinen kommenden Filmen auszeichnen soll. Natürlich fallen dabei sofort die Tarantino-typischen Dialoge auf.

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Aber die Szene ist nicht einfach nur unterhaltsam. Sie eröffnet zugleich eine ganze Reihe von Themen, die sich durch den Film ziehen. Zunächst das Thema Männlichkeit. Es sitzen ein Haufen Typen um einen Tisch herum und unterhalten sich über eine Frau (Madonna). Durch die Trinkgelddiskussion wird die postmoderne These eingeführt, dass es keine universellen Werte gibt und wiederum durch die „Like a Virgin“-Anekdote wird das Thema „Erlösung durch Schmerz etabliert.

Nicht zuletzt bekommen fast alle Charaktere einen kleinen oder größeren Moment, der sie etabliert. Mr. White nimmt Joe das Buch weg und zeichnet sich so als Anführer aus, der Joe ebenbürtig ist. Mr. Blonde fragt daraufhin, ob er Mr. White umbringen soll, womit er seine Psychopathie andeutet und zugleich zeigt, wie loyal er Joe gegenüber ist. Mr. Pink zeigt mit der Trinkgeld-Diskussion, wie egoistisch und durchgeknallt er ist, aber auch, dass er gute Argumente hat. Mr. Orange, der Verräter, verrät dann Mr. Pink, als Joe fragt, wer kein Trinkgeld gegeben hat. Auch wichtig ist, dass Mr. Brown so einen großen Redeanteil an der ersten Szene hat. Da wir ihn später fast nicht mehr sehen und er auf der Flucht stirbt, ist es wichtig, dass wir ihn kennengelernt haben. Warum? Das erklärt uns noch einmal „Movies I Love (and so can you)“ am Unterschied von Jurassic Park und Jurassic World:

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Ein männlicher Film

Reservoir Dogs ist ein sehr männlicher Film. Die Fakten sind zunächst, dass wir nur männliche Sprechrollen haben und dass diese Männer sich geradezu „hypermännlich“ verhalten. Aber im Gegensatz zu vielen anderen Filmen ist sich RD dieser Tatsache sehr bewusst und spielt damit.

Das sieht man wieder an der ersten Szene, in der erst misogyn über Madonna und ihre „Big Digs“ diskutiert wird. Aber im Anschluss über Trinkgeld und darüber dass vor allem Frauen ohne Ausbildung Kellnerinnen sind und sie auf das Trinkgeld angewiesen sind – ein dezidiert feministisches Thema.

Die nächste Szene nach der Titelsequenz zeigt dann den angeschossenen Mr. Orange im Auto. Die Art und Weise, wie Tim Roth sie spielt und auf der Rückbank des Autos liegt erinnert dabei stark an eine Geburt. Dabei schreit er immer wieder, dass er von einer Frau angeschossen wurde und fragt, warum sie das gemacht hat. Im Lagerhaus tupft Mr. White ihm dann auch noch die Stirn, wie ein werdender Vater der Frau.

Postmodernes Kino & Erlösung

Tarantino gilt als Paradebeispiel für einen postmodernen Regisseur, weil er selbstreflexiv und selbstironisch. Er packt seine Filme mit unzähligen Zitaten und Referenzen voll. Mark T. Conard betont, dass das aber noch nicht alle postmodernen Aspekte an Tarantino sind. Er schreibt, dass die postmoderne Philosophie sich dadurch auszeichnet, dass sie sowohl die Suche nach universellen Werten als auch jene nach absoluter Wahrheit aufgegeben hat. Beide Elemente stecken auch immer in Tarantinos Filmen.

Die Relativierung von Werten ist ein permanentes Thema in Reservoir Dogs, wahrscheinlich am drastischsten in der damals skandalösen Folterszene exemplifiziert. Aber auch sie findet sich schon in der ersten Szene in der guten Argumentation von Mr. Pink, dass Trinkgeldgeben nur eine willkürliche gesellschaftliche Konvention ist mit der er die vorherschende Moral anzweifelt.

Die These, dass es keine Wahrheit gibt, zeigt sich wiederum sehr schön in der Anekdote über den Gras-Deal, die Mr. Orange sich ausgedacht hat. Wir sehen in der Inszenierung erst verschiedene Probenphasen der Geschichte, dann, wie Orange sie den Dogs erzählt und springen dann in die Geschichte hinein, als wäre sie doch tatsächlich passiert. Mit dieser Geschichte in der Geschichte in der Geschichte führt uns Tarantino vor Augen, dass es keine Wahrheit gibt.

Auch dass wir den Heist nicht sehen, sondern nur in Form von Botenberichten erzählt bekommen, also wieder als Erzählungen in der Erzählung, ist ein weiterer Aspekt, in dem Reservoir Dogs die These vertritt, dass es keine Wahrheit gibt.

Diese postmodernen Thesen kombiniert Tarantino mit Erlösungsgeschichten. Daraus ergibt sich die Frage, wie Erlösung in einer Welt aussieht, in der es keine absoluten Werte mehr gibt, in der Gott tot ist. Die vermeintliche Antwort, die Tarantino darauf gibt, ist „Erlösung durch Schmerz“. Das zeigt sich schon in der bekloppten Diskussion über Madonna, in der es darum geht, dass eine Frau beim Sex so viel Schmerz hat, dass sie sich wieder wie eine Jungfrau fühlt. Dieses Thema wird dann durch das Leiden von Mr. Orange aufgegriffen, welches ja mit einer Geburt assoziiert wird, an deren Ende die Erlösung vom Schmerz quasi durch den Schmerz der Geburt steht.

Die Beziehung von White und Orange

Behalten wir, das oben geschriebene zu Geschlechterrollen, zur Erlösung und zum postmodernen Kino im Auge und betrachten wir die Beziehung von Mr. White und Mr. Orange.

Ebenfalls in der ersten Szene wird schon etabliert, dass White und Orange eine enge Beziehung haben, indem sie eng nebeneinander im Diner sitzen. Die beiden haben ein sehr inniges geradezu intimes Verhältnis, wie Brüder oder wie Vater und Sohn. Die Beziehung der beiden ist fast inszeniert wie in einem Liebesfilm. Mr. White geht ungewöhnlich zärtlich mit Mr. Orange um, besonders mit Blick darauf, wie demonstrativ männlich Reservoir Dogs ist. Mr. Oranges Verletzung wird dabei gewissermaßen als Entschuldigung dafür angeführt, sodass keine Homoerotik aufkommt:

„In the war film, a soldier can hold his buddy—as long as his buddy is dying on the battlefield. In the western, Butch Cassidy can wash the Sundance Kid’s naked flesh—as long as it is wounded. In the boxing film, a trainer can rub the well-developed torso and sinewy back of his protege—as long as it is bruised. In the crime film, a mob lieutenant can embrace his boss like a lover—as long as he is riddled with bullets. Violence makes the homoeroticism of many “male” genres invisible; it is a structural mechanism of plausible deniability.“

Kent Brintnall’s Tarantino’s Incarnational Theology: Reservoir Dogs, Crucifixions and Spectacular Violence zitiert nach Randomaniac.

Aber di Verletzung von Orange hat noch eine andere Bedeutung. Mr. Orange hat eine Doppelrolle: Als Verräter ist er einerseits der Judas der Geschichte. Durch sein Leiden hat er in dieser Erlösungsgeschichte aber zugleich die Rolle des Jesus‘ inne. Das führt uns Tarantino ultimativ in der letzten Szene vor Augen:

Still aus der letzten Szene von Reservoir Dogs

Still aus der letzten Szene von Reservoir Dogs

Hiermit spiegelt er Michelangelos berühmte Skulptur von Maria, die den sterbenden Jesus im Schoß hält, die Pietà:

Michelangelos Pietà

Michelangelos Pietà

Mit dieser letzten Szene hat Tarantino eine Klammer um seinen Film gelegt: Er beginnt ihn mit Schmerz und Madonna in einer sehr albernen Form und lässt ihn enden mit Schmerz und Madonna in einer sehr ernsten Form. Und er verdeutlicht uns, dass die Beziehung von White und Orange gewissermaßen eine Mutter-Sohn-Beziehung ist. Doch bringt sie auch Erlösung?

„However, because the universe that these characters inhabit is a postmodern one, their attempts at redemption are bound to fail, one way of living being, according to postmodernism, morally equal to any other way.“

Metaphilm

Da es keine absolute Moral in diesem postmodernen Universum gibt, muss der Versuch, erlöst zu werden, scheitern. Denn eine Art zu leben ist genauso gut oder schlecht wie jede andere. Es gibt keine Autorität mehr die entscheidet, ob du tugendhaft bist. Wir argumentieren heute am ehesten mit gesellschaftlichen Werten (ein Grund, warum Tarantino so viel Popkultur in seine Filme einwebt).

So endet der Film dann auch damit, dass Orange gesteht, dass er der Verräter ist. White erschießt daraufhin Orange und wird von der Polizei erschossen.

Die Folterszene

Die damals skandalöse Folterszene ist in ihrer Verdichtung die Entscheidende Szene an deren Ende klar ist, dass Mr. Orange der Verräter ist.

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Interessant an der Szene ist die Verwendung des Songs „Stuck in the middle with you“. Statt das Gezeigte mit dramatischer Musik zu untermalen, wählt Tarantino einen Song, der als Kontrapunkt funktioniert. Das bewirkt aber gerade, dass Mr. Blonde noch entrückter, noch psychopathischer wird.

Dies wird dann noch einmal verstärkt, als Blonde mitten in der Szene das Lagerhaus verlässt, um den Benzinkanister zu holen. Die diegetische Musik endet in diesem Moment und draußen ist ein schöner, sonniger Tag, wir hören Kinder und dann kehren wir in das Lagerhaus mit seinem Grauen zurück. Dies unterstützt die Vorstellung, dass eine so schreckliche Tat in unserer Nachbarschaft geschehen könnte, ohne dass wir sie bemerken und verstärkt so den Schrecken.

Interessant ist außerdem, dass die Kamera uns die eigentliche Folter nicht zeigt. Die Schnitte mit dem Rasiermesser werden ähnlich wie in der Duschszene von Psycho so geschickt geschnitten, dass wir glauben, sie zu sehen, ohne sie zu sehen. Als Blonde dann das Ohr des Polizisten abschneidet, dreht die Kamera weg, als könnte sie selbst nicht ertragen, was gerade geschieht. Erst als der eigentliche Akt des Foltern vorbei ist, sehen wir die Gore-Effekte.

Unchronologisches Erzählen

Während Pulp Fiction die traditionelle Storyline komplett aufgibt und nur noch fragmentarisch erzählt, beginnt dieses weitere Element des postmodernen Kinos bereits in Reservoir Dogs. Wenngleich der Film die traditionelle Story-Line noch nicht komplett aufgibt, so bricht er sie doch auf.

Der Heist-Movie war seit Rififi sehr formelhaft aufgebaut: Wir sehen das Casting der Crew, die Planung des Heists, die Durchführung des Heists, bei der etwas schiefgeht und improvisiert werden muss und die Konsequenzen des Heists.

Reservoir Dogs auf der anderen Seite lässt den Heist als den Dreh und Angelpunkt des Plotts komplett weg. Nach einem vom Plott unabhängigen Prolog steigen wir direkt in die Konsequenzen des Heists ein und bekommen in Rückblenden das Casting erzählt. Wir sehen auch nicht die Planung des Heists, stattdessen sehen wir die Planung der Undercover-Rolle von Mr. Orange. Den Heist selbst bekommen wir nur in Form von Botenberichten erzählt.

Die Dialoge

Schon in Reservoir Dogs bekommen wir die berühmt gewordenen Tarantino-Dialoge zu hören: Die Protagonisten unterhalten sich auf sehr unterhaltsame Art und Weise über irgendetwas sehr Banales. Hier die im Podcast angesprochene schöne Analyse der Dialoge von Tarantino:

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Die Protagonisten

„For Tarantino, it’s all about the characters, the chaos, the relationships under pressure, and of course the delicious dialogue, strewn with entertaining asides, entertaining stories, and gallows humor.“

TCM

Psychology Today hat analysiert, unter welchen Persönlichkeitsstörungen die Protagonisten leiden:

  • Mr. Blonde ist demnach ein sadistischer Psychopath
  • Mr. Pink ist ein Psychopath mit paranoiden Zügen
  • Mr. White ist ein Soziopath
  • Und Mr. Orange hat eine narzisstische Persönlichkeitsstörung

Kritikpunkte

Wir besprachen Kritikpunkte, die Reservoir Dogs entgegengebracht wurden:

  • Paula kritisiert, die Darstellung, dass das erste Mal Frauen, immer Schmerzen bereitet.
  • Es gibt auch heute noch den Vorwurf, dass Reservoir Dogs ein Plagiat von City on Fire ist:
    Wer das behauptet, hat einen der beiden Filme nicht gesehen. Zwar tauchen viele Plottpunkte von Reservoir Dogs in City on Fire auf, dort spielen sie aber eine untergeordnete Rolle, während Tarantino sie zum Dreh und Angelpunkt des Films erhebt. Somit kann nicht die Rede sein von einem Plagiat.
  • Muss der Film so gewalttätig sein?
    Die explizite Gewalt war sicherlich eine Provokation. Schließlich hat Tarantino damit einen Trend angestoßen. Als Filmnerd hat er diese Elemente aus dem Horrorfilm übernommen und dem breiten Publikum vorgeführt. Speziell bei Dogs trägt die Gewalt auch viel zum Realismus bei, anders als in späteren Filmen wird sie hier nicht als Comic Relief verwendet, sondern um das Drama zu unterstützen.
  • Der Film ist Style over Substance:
    Paula räumt ein, dass die Geschichte sehr einfach gestrickt ist. Daniel und Mathias sehen darin kein Problem und vertreten die These, dass große Geschichten nicht unbedingt kompliziert sein müssen.
  • Tarantino ist ein schlechter Schauspieler.
    Mathias bestätigt diesen Vorwurf: „Ich finde Tarantino tatsächlich immer grenzwertig in seinen Filmen“.
  • Everybody sounds the same – Die verschiedenen Rollen sind noch nicht so nuanciert wie in späteren Werken, sondern im Grunde stehen hier eine Handvoll Tarantinos vor der Kamera, die alle die gleiche Attitüde haben:
    Paula wendet ein, dass das absolutes Nitpicking ist. Der Film ist gut und jemand hat verzweifelt nach irgendeinem Kritikpunkt gesucht.
  • Nach der Eröffnungsszene fällt die Qualität ab:
    Können wir nicht nachvollziehen. Das Drama im Lagerhaus ist großartig.
  • Der Filmfehler im Mexican Standoff:
    Er ist uns ohne das vorherige Wissen gar nicht aufgefallen, da das Drama funktioniert, gilt der Grundsatz – Wirkung geht über Realismus.
  • Paula kritisiert die Rückblenden, der Film hätte auch als komplettes Kammerspiel funktioniert.

Eastereggs & Tarantinos Universum

  • In der Szene, in der Mr. Pink vor der Polizei flieht, hört man den Wilhelmschrei.
  • In der Szene wiederum, in der Mr. Blonde den anderen zeigt, dass er einen Cop gefangen hat, sehen wir zum ersten Mal Tarantinos Markenzeichen: den Trunkshot.
  • Mr. Blondes bürgerlicher Name ist Vic Vega. In einem Interview verriet Tarantino, dass er der Bruder von Vincent Vega aus Pulp Fiction ist.
  • In Reservoir Dogs wird in einer Szene eine Krankenschwester namens Bonnie erwähnt, in Pulp Fiction ist sie die Frau von Jimmie, bie dem Vincent und Jules das Auto putzen müssen, bevor Bonnie nach Hause kommt.
  • An einer Stelle in Dogs läuft Radiowerbung für „Jack Rabbit Slim’s“
  • In Mr. Whites Flashback, sprechen er und Joe über Alabama: Patricia Arquettes Character aus True Romance.
  • Da Tarantino kein Productplacement mag, wird auch hier schon Red Apples geraucht.
  • Außerdem trinkt Mr. Blonde aus einem Pappbecher von Big Kahuna Burger, als er im Lagerhaus ankommt.
  • Radio K-Billy gab es schon im zerstörten eigentlichen Debüt von Tarantino „My Best Friend’s Birthday“. Mr White heißt in Dogs Larry Dimmick. In Pulp Fiction spielt Harvey Keitel Jimmy Dimmick.

Zitate & Referenzen

  • Rashomon (1950) ist gewissermaßen die Mutter des nichtlinearen Erzählens.
  • Kansas City Confidential (1952): Der Plott von Reservoir Dogs soll durch diesen Film inspiriert worden sein.
  • Rififi (1955): ist wiederum die Mutter des Heist-Movies. Außerdem gibt es eine Folterszene mit einem Rasiermesser.
  • The Killing (1956): Hier kommt schon der schiefgegangene Heist sowie das unchronologisches Erzählen vor.
  • Bande à part (1964): Tarantinos Produktionsfirma heißt “A Band Apart”, das referenziert Godards Film. Außerdem wird wohl einmal erwähnt, dass der Juwelier “Karina’s” heißt. Er ist nach der Schauspielerin Anna Karina benannt, die die Hauptrolle in Bande à part spielt.
  • In Django (1966) wird auch jemandem ein Ohr abgeschnitten.
  • Mr. Blonde referenziert Blondie aus The Good, The Bad And The Ugly (1966)
  • Die Idee mit den Farb-Pseudonymen übernahm Tarantino aus The Taking of Pelham One Two Three (1974)
  • Wenn Mr. Blonde während der Folterszene aus dem Lagerhaus läuft ist das inspiriert durch Brian De Palmas Scarface (1983):

„the camera drifting away from the chainsaw dismemberment, out the window, and across the street to where the victim’s pals are chatting up some pretty girls serves essentially the same function.“

A. V. Club

  • In City on Fire (1987) tauchen bereits große Teile des Plotts auf: Ein Undercover-Cop wird in eine Gruppe Juwelendiebe eingeschleust, der Heist geht schief, der Cop wird angeschossen. Sie fliehen in ein Lagerhaus, dort wird diskutiert, wer der Verräter ist un es kommt zum Mexican Standoff, am Ende stürmt die Polizei das Lagerhaus und alle sterben. Diese Handlungsaspekte machen aber nur einen kleinen Teil in City on Fire aus.

Die Rezeption von Reservoir Dogs

Reservoir Dogs auf den Festivals

Reservoir Dogs feierte seine Premiere beim Sundance Filmfestival 1992. Es war der am heißesten diskutierte Film des Jahres auf dem Festival. Und dass er keinen Preis gewann, lag mutmaßlich an einer Panne bei seiner Aufführung: RD war im Breitbildformat gefilmt worden, wurde aber bei der ersten Aufführung in einem Kino gezeigt, das nicht auf Breitbild ausgelegt war. Das führte dazu dass große Teile des Bildes links und rechts der Leinwand auf den Vorhang projiziert wurden. In der Mitte des Films sprang Tarantino auf und schrie, man solle den Film abbrechen, er könne das nicht länger ertragen. Es sei vielleicht der einzige Film, den er je drehen würde und das Kino würde alles verderben! Dieser Vorfall hat übrigens dazu geführt, dass alle Kinos auf dem Sundance seitdem Breitbild projizieren können müssen.

Als Reservoir Dogs auf dem Sitges Film Festival lief, verließen viele Zuschauer den Film während der Folterszene. Unter ihnen war auch Wes Craven. Craven sagte später, in der Lobby des Kinos wäre ein junger Mann auf ihn zugekommen und hätte gefragt

‘You’re Wes Craven, right?’

Als Craven das bestätigte, freute sich der junge Mann:

‘I just scared Wes Craven!’

– Es war Quentin Tarantino.

Dogs lief auch in Cannes, allerdings außerhalb des Wettbewerbs in einer Reihe von Mitternachtsvorführungen. Dort wurden die Produzenten Harvey und Bob Weinstein darauf aufmerksam. Sie kauften die Rechte für Miramax, aber vor allem nahmen sie Tarantino unter Vertrag und finanzierten Pulp Fiction.

Die Kritiken zu Reservoir Dogs

Insgesamt erhielt Reservoir Dogs gute Kritiken, allerdings wurde die Gewalt sehr harsch kritisiert. berühmte Fernsehsendung Siskel and Ebert gab „two thumbs down“, wobei Roger Ebert Tarantinos Talent anerkannte, nur meinte, er habe es nicht ausgeschöpft. Er urteilte, dass er durchaus mochte, was er sah. Er aber mehr sehen wollte.

Die Filmkritikerin Jami Bernard (Nachtrag zum Podcast: In der Folge sprachen wir von ihr, wie von einem Mann. Wir bitten um Entschuldigung) von der New York Daily News verglich Reservoir Dogs mit der Legende von L’Arrivée d’un Train en Gare de la Ciotat (1895), bei dem das Publikum ja aufgesprungen sein soll, weil ein Zug auf sie zu raste. Die Geschichte ist nicht wahr, aber Bernard wollte darauf hinaus, dass das Publikum von 1992 einfach noch nicht bereit sei für Reservoir Dogs.

Das Einspielergebnis

In Amerika spielte der Film mit 2,8 Millionen durchaus einen Achtungserfolg ein. Wurde dann aber auf dem VHS-Markt erst zum richtigen Kassenschlager. Reservoir Dogs war aber vor allem im UK sehr erfolgreich, wo er 6,5 Millionen Pfund einspielte und nicht zuletzt die große Welle der britischen Gangsterkomödien anstieß.

Einfluss & Kontroverse

Amy Nicholson vom Podcast The Canon erzählte in der Sendung, dass sie in den 90ern mal als Kuratorin für Sundance gearbeitet hat. In den Jahren nach Reservoir Dogs gab es wohl unglaublich viele Indie Filme, die Tarantinos Film imitierten.

„It was also enormously influential, inspiring a whole cottage industry of second-rate (and worse) imitators making crime films with brutal acts of violence, foul language, idiosyncratic dialogue, homages to other (better films), and „clever“ twists, most of which ended up going straight to video. Those films missed Tarantino’s most creative contributions to the crime genre: his love of movies, his gift for creating distinctive characters, and his playful approach to storytelling. Where copycats try to show off their hipness by making a point of referencing cult movies, Tarantino never drew attention to his homages. It wasn’t the quote that mattered, it was how the idea was reworked in a new context to become a piece of cinema storytelling in its own right.“

Turner Classic Movies

Obwohl er im Kino ein so großer Erfolg gewesn war, erhielt er im UK erst 1995 einen Video-Release, da dort eine Gewalt-Debatte in Politik und Öffentlichkeit eine frühere Veröffentlichung verhinderte. Aufgrund der Gewaltdarstellung hatte RD erst am 7. Mai 2009 nach 17 Jahren im WDR die Erstausstrahlung im deutschen Free-TV.

2012 gab es eine szenische Lesung des Drehbuchs mit ausschließlich schwarzen Schauspielern, darunter Laurence Fishburne, Cuba Gooding Jr. und Anthony Mackie.

Als Madonna später Tarantino traf, schenkte sie ihm eine Kopie ihres Albums „Erotica“, die handsigniert war mit:

„To Quentin. It’s not about dick, it’s about love. Madonna.“

Preise und Bestenlisten

  • Bei den Independent Spirit Awards 1993 erhielt Steve Buscemi den Preis für die beste männliche Nebenrolle
  • Beim Toronto International Film Festival 1992 erhielt Tarantino den International Critics‘ Award
  • In der IMDB Top 250 steht Reservoir Dogs auf Platz 75 (Juli 2016)
  • Das Magazin „Premiere“ wählte ihn zu einem der „The 25 Most Dangerous Movies“.
  • Empire wiederum wählte RD zum „Greatest Independent Film of all Time“
  • Außerdem landete er bei Empire auf Platz 97 in der Liste „the 500 Greatest Films of All Time“
  • Auch Reservoir Dogs befindet sich in „1001 Movies You Must See Before You Die“ von Steven Schneider

Lesenswert, Sehenswert & Hörenswert

Podcasts

Funfacts

Essays & Analysen

Interviews

The End.

SF65 – Her (feat. Christian)

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Him


Are these feelings even real?

Für den ersten Teil unseres Tripple-Features rund um Spike Jonzes Her luden Paula und Daniel eine künstliche Intelligenz mit Namen Christan ein. Vom Server der Second Unit simulierte uns diese Stimme echte utopische Gefühle für diesen dystopischen Liebesfilm. Wir schwankten zwischen „Awwww“ und „Uh, akward!“, als wir unaufgeregt Themen wie ungleiche Partnerschaft, Telefonsex, Liebe als Serviceprodukt, und das Fehlen einer Zukunft nicht herbeispekulierten sondern feststellten!

Die Besprechung von Her erfolgte auf den Wunsch von @PattaFeuFeu und in Kürze werdet ihr dazu noch jeweils eine Folge in der Second Unit und im Enough Talk hören können!

Vorgeplänkel

Christian muss den Proustfragebogen beantworten ♦ Superhero Unit ♦ Daniels schriftliche Besprechung von The Birth of a Nation ♦ Second Unit zu Fifty Shades of Grey ♦ John Oliver: How is this still a thing – Hollywood Whitewashing

Die Eckdaten zu Her

Erscheinungsjahr: 2013
Regie: Spike Jonze
Budget: 23 Mio $
Kamera: Hoyte van Hoytema
Besetzung: Joaquín Phoenix (Theodore), Scarlett Johansson (Samantha), Chris Pratt (Paul), Amy Adams (Amy), Olivia Wilde (Blind Date), Rooney Mara (Catherine)
Genre: Liebesfilm, Tragikomödie, Near Science Fiction

Die Produktion von Her

Die Idee zu Her kam Spike Jonze, als er Anfang der 2000er auf einen Chat stieß, der versprach, dass die Chatbots über K.I. verfügen. Er war 20 Sekunden hin und weg, dann hatte er die Grundprinzipien verstanden und dachte sich, dass das noch besser gehen muss. Jonze machte es dann auch schon besser, als er sich dem Thema 2010 mit dem Kurzfilm „I’m here“ widmete. Hier auf YouTube:

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Danach begann er mit dem Drehbuch zu Her, bei dem ihn in ein paar Szenen übrigens Charlie Kaufmann (Eternal Sunshine of the Spotless Mind, Being John Malkovich, Adaption, Anomalisa) half. Während Jonze noch am Drehbuch saß, veröffentlichte Apple Siri und Spike Jonze war sauer, weil Apple ihm quasi die Show gestohlen hatte. Jedoch erwies sich Siri in der Realität ja nicht als Konkurrenz …

2012 begannen dann die Dreharbeiten. Während dieser Dreharbeiten spielte die Schauspielerin Samantha Morton die Rolle von Samantha. Um ein möglichst realistitsches Ergebnis zu erzielen, bekam Joaquín Phoenix sie allerdings tatsächlich nie zu Gesicht, sondern hörte nur ihre Stimme. In der Postproduktion entschied Jonze dann, dass die Version von Samantha Morton nicht funktioniert und recastete Scarlett Johannson, die die Szenen neu einsprach und mit der ein paar zusätzliche Szenen gedreht wurden.

Jonze sperrte hingegen Adams und Phoenix täglich für ein bis zwei Stunden zusammen in einen Raum, damit sie sich kennenlernen und ihre Freundschaft auf der Leinwand realistischer wirkt. Adams und Phoenix sind seitdem auch im Leben gute Freunde. Die Stadt im Film ist übrigens eine Mischung aus Aufnahmen, die in L. A. und Shanghai entstanden.

Im ersten Rohschnitt war der Film dann mit über 150 Minuten viel zu lang und Jonze bat Steven Soderbergh um Hilfe, der den Film radikal auf 90 Minuten kürzte, indem er alle unnötigen Subplotts rausschmiss. Erst anschließend packte dann Jonze wieder ein paar Szenen zurück in den Film, die er mochte, sodass die finale Länge von 120 Minuten erreicht wurde. Die Filmmusik von Her wurde von der kanadischen Band Arcade Fire und Owen Pallett komponiert. Ergänzt wird das Werk mit Musik von Karen O, der Sängerin der Band Yeah Yeah Yeahs.

Filmisches Erzählen in Her

Ist eine Liebesbeziehung zu einer K.I. möglich?

Paula gibt zu bedenken, dass die Beziehung zwischen Theo und Samantha ein Ungleichgewicht aufzeigt, da Samantha einerseits von Theo abhängig ist. The hat Samantha gekauft, außerdem ist er ihr überlegen, da er sie besitzt und sie als körperloses Wesen auf seinen Geräten existiert. Andererseits Theo auch über viel mehr Erfahrungen in Bezug auf die Liebe verfügt. Daniel erwidert, dass das Ungleichgewicht an Erfahrungen erstens auch in normalen Beziehungen existiert und zweitens im Film explizit angesprochen wird. Genauso wird besonders zum Ende hin die Überlegenheitsfrage diskutiert und umgedreht. Christian betont, dass Samantha diejenige ist, die sich weiterentwickelt und so von Theo wegentwickelt.

Voneinander wegentwickeln

Samantha entwickelt sich von Theo weg, genau wie es zuvor seine Ehefrau getan hat. Der Film erzählt eigentlich die Geschichte wie Theo seine gescheiterte Ehe verarbeitet. Denn während die Trennung von seiner Exfrau ihn kaputt machte, heilt die Beziehung zu Samantha wieder und die Trennung lässt einen ganzen Theo wieder zurück. Das zeigt sich sehr schön daran, dass er am Anfang des Films (Liebes-)Briefe an andere Menschen schreibt, selbst aber einsam ist. Am Ende schreibt er aber einen Brief für sich selbst an seine Exfrau.

Wie erzählt Her die Liebesgeschichte?

Das Besondere an diesem Liebesfilm ist, dass er mit nur einem statt traditionell zwei sichtbaren Protagonisten auskommen muss. Um diese Liebesgeschichte zu inszenieren werden sehr viele Großaufnahmen von Theo gezeigt, damit wir auf seinem Gesicht den Beziehungsstatus ablesen können.

Obwohl Samantha nie zu sehen ist, ist sie aber andererseits immer bei Theo – noch viel häufiger als es ein Mensch sein könnte. Die Art, wie Theo und Samantha ihre Beziehung führen erinnert zugleich an Fernbeziehungen in unserer Zeit.

Sind die Gefühle von Samantha echt?

Catherine, Theos Exfrau, sagt an einer Stelle, dass Theo sich nur deshalb eine künstliche Frau gesucht hat, weil er mit echten Gefühlen nicht klarkommt. Paula wendet ein, dass an dieser Sicht etwas dran ist. Samantha hat keine Hormone, sie ist daher nie schlecht drauf, sondern immer für Theo da – ein Serviceprodukt. Daniel ergänzt, dass dies genau die Scheide von Utopie und Dystopie ist. Sehen wir Samantha als ein Es an oder als eine Sie. Hinzu kommt wieder, dass Samantha immer da ist. Theo kann mitten in der Nacht sein Handy anknippsen und mit ihr sprechen, während ein Mensch in dieser Situation wahrscheinlich ungehalten reagieren würde. Christian gibt zu bedenken, dass diese Gefühle zumindest für Theo echt sind. Er verliebt sich in etwas, was auch immer es ist.

Die Kameraarbeit

Klassisch für den Liebesfilm ist der Twoshot, in dem die Liebenden zusammen in einem Frame zu sehen sind. Liebesfilme sind konventionell so aufgebaut, dass wir eine Reihe von Twoshots zu sehen bekommen, solange bis wir uns visuell an das Pärchen gewöhnt haben. Dann wird eine Situation herbeigeführt, bei der das Pärchen getrennt wird. Die Frames mit nur einem der beiden Protagonisten lassen uns dann das Vermissen nachempfinden. Im Finale wird diese Spannung dann wieder gelöst, indem wir erneut den Twoshot zu sehen bekommen.

Das Problem von Her ist nun, dass der Film zwangsläufig auf den Twoshot verzichten muss. Die Frage ist also: Wie stellt Spike Jonze die Liebe stattdessen dar. Ein Mittel dafür sind ungewöhnlich viele Close-ups des Gesichts von Joaquín Phoenix, sodass wir aus diesem Gesicht immer herauslesen können, wie die Beziehung läuft.

Ferner ist der Film ziemlich schnell geschnitten. Das ist ein einfaches Mittel, damit uns das immer gleiche Bild von Theo nicht langweilig wird. Aber in entscheidenen Momenten setzt der Film dann Jumpcuts ein, bei denen wir aus einer mittleren Einstellung ins Close-up springen, um eine bestimmte Emotion von Theo besser lesen zu können. Alternativ verwendet Jonze langsame Zooms zum gleichen Zweck.

Außerdem benutzt Spike Jonze ähnlich wie Sophia Coppola in Lost in Translation Asymmetrie im Bildaufbau um den Gefühlszustand von Theo darzustellen. Zu guter Letzt kommt hinzu, dass Theo sein Handy immer in der Brusttasche trägt, was dazu führt, dass wir manchmal ganz explizit POV-Shots von Samantha zu sehen bekommen und außerdem es manchmal nicht klar ist, wessen POV wir gerade sehen.

Zitate, Referenzen & Cameo

  • Spike Jonze spricht die Alien Child Voice
  • In der Struktur der Liebesgeschichte ähnelt Her sehr Vertigo (1958). Theo hängt einer unerreichbaren Liebe nach, während er seine beste Freundin, eine bodenständige Künstlerin, ignoriert.
  • Die Szene, in der Theo und Samantha durch die Mall laufen und sich Geschichten über andere ausdenken zitiert Annie Hall (1977)
  • Der Voight-Kampff-Test aus Blade Runner (1982) wird zitiert, als Theo Samantha installiert
  • Es gibt mehrere Shots, die Lost in Translation (2003) zitieren

Die Rezeption von Her

Der Film bekam ursprünglich nur einen Limited Release in sage und schreibe 7 Kinos. Erst als er sich dort als großer Erfolg abzeichnete, bekam er einen amerikaweiten Release. Das Einspielergebnis lag letztlich weltweit bei 47,3 Mio $ (bei einem Budget von 23 Mio $). Die Hochwasserhosen aus dem Film kann man online kaufen. Die URL beautifulhandwrittenletters.com leitet hingegen nur auf die offizielle Filmseite weiter.

Preise und Bestenlisten

Der Film erhielt viele Preise.

  • Der Film erhielt den Oscar für das beste Drehbuch
  • den Golden Globe für das beste Drehbuch
  • den Writers Guild Award für das beste Drehbuch
  • Scarlett Johansson hat bei mehreren kleinen Festivals und Awards gewonnen
  • Die Alliance of Women Film Journalists wählte die Sexszene zwischen Joaquin Phoenix und Scarlett Johansson zur besten Sexszene
  • Das AFI wählte ihn in die Liste der 10 besten Filme aus 2013

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